Keine Tierversuche mit Primaten
Nachdem das Bundesgericht 2009 zwei schwerbelastende Experimente mit Primaten am Institut für Neuroinformatik (INI) der Universität und ETH Zürich verboten hat, führt das Institut erneut Primatenversuche mit sehr ähnlichem Versuchsaufbau durch. Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich stützt dieses Vorhaben.
Im Juli 2014 bewilligte das kantonale Veterinäramt ein Gesuch des INI
zur Durchführung eines in der höchsten Belastungskategorie eingestuften
Affenversuchs, um grundlegende Daten über Hirnfunktionen zu sammeln. Rhesusaffen werden in der Hirnforschung verwendet, weil ihre Gehirnstruktur jener des Menschen besonders nah kommt. Zum
Versuchsablauf gehört die Implantation von Elektroden ins Gehirn sowie
einer Kopfhalterung am Schädel, die zur Fixierung der Makaken im
sogenannten "Primatenstuhl" dient. Um die Tiere zur Kooperation am
Experiment zu bewegen, ist zusätzlich eine strikte Wasserlimitierung
vorgesehen. Während mehrerer Stunden täglich sollten die durstig
gehaltenen Tiere mit fixiertem Kopf Aufgaben an einem Bildschirm lösen –
und das Ganze über Monate bis Jahre hinweg.
Fachleute der Ethik, der Veterinärmedizin, der Biologie und der
Rechtswissenschaft hatten sich gegen das schwerbelastende
Primatenexperiment ausgesprochen. Drei Mitglieder der kantonalen
Tierversuchskommission rekurrierten in der Folge gegen die
veterinäramtliche Bewilligung. Obwohl der aktuell zu beurteilende
Tierversuch inhaltlich mit den früheren Versuchsanordnungen vergleichbar
ist und somit auch die Güterabwägung gleich ausfallen müsste, wies der
Regierungsrat des Kantons Zürich den Rekurs ab. Die im Verein Koordination Kantonaler Tierschutz Zürich (KKT)
zusammengeschlossenen Organisationen, darunter die TIR, unterstützen
die Tierschutzvertreter der kantonalen Tierversuchskommission, die sich
gegen den geplanten Versuch zur Wehr setzen. Am 5. April 2017 hat das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich entschieden, dass schwerstbelastende Gehirnversuche an Primaten an der Universität und ETH Zürich durchgeführt werden dürfen. Die Tierschutzvertreter haben – anders als dies in der entsprechenden Medienmitteilung des Verwaltungsgerichts suggeriert wird – keine gesetzliche Möglichkeit, den Entscheid an das Bundesgericht weiterzuziehen.
Chronologie
- 22.5.2006: Die Eidgenössische Kommission für Tierversuche (EKTV) und die Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich (EKAH) stellen ihren gemeinsam erarbeiteten Bericht "Forschung an Primaten – eine ethische Bewertung" vor und geben verschiedene Empfehlungen betreffend die experimentelle Verwendung von Affen ab. Die Stiftung für das Tier im Recht unterstützt die an den Rechtsetzer gerichtete Forderung der EKTV/EKAH nach einem ausdrücklichen gesetzlichen Verbot von Versuchen mit grossen Menschenaffen.
- November 2006: Entgegen des Antrags der Tierversuchskommission bewilligt die Veterinärbehörde des Kantons Zürich zwei belastende Primatenversuche am Institut für Neuroinformatik der Universität und der ETH Zürich. Die Tierversuchskommission und sechs ihrer Mitglieder reichen dagegen Rekurs bei der Gesundheitsdirektion ein. Nach ihrer Ansicht verstösst die Bewilligung gegen geltendes Recht.
Ausschliesslich im Kanton Zürich ist es Mitgliedern der Tierversuchskommission aufgrund einer speziellen kantonalgesetzlichen Norm möglich, ein Rechtsmittel gegen eine erteilte Tierversuchsbewilligung einzulegen.
- 2.3.2007: Die Gesundheitsdirektion heisst den Rekurs gut und hebt die Bewilligungsverfügung des Veterinäramts auf. Sie folgt dabei der Argumentation der Tierversuchskommission, wonach die geplanten Versuche die Würde der Tiere in unverhältnismässiger Weise beeinträchtigen und daher rechtswidrig sind. Gegen diesen Entscheid erheben die an der Durchführung der Experimente interessierten Forschenden Beschwerde beim kantonalen Verwaltungsgericht.
- 6.5.2008: Das Verwaltungsgericht bestätigt den Entscheid der Gesundheitsdirektion und weist die Beschwerde vollumfänglich ab. Die beiden umstrittenen Primatenversuchsprojekte am Institut für Neuroinformatik bleiben vorerst verboten. Erstmals überhaupt werden damit umstrittene Tierversuche in der Schweiz durch eine Tierversuchskommission auf dem Rechtsmittelweg verhindert.
- 1.9.2008: Die neue Tierschutzgesetzgebung tritt in Kraft. Neben verschiedenen Verschärfungen der Haltungs- und Umgangsbestimmungen wird ein neuer Fokus auf Ausbildung und Information aller Personen gesetzt, die mit Tieren zu tun haben. Neu wird der Verfassungsgrundsatz der Tierwürde in die Gesetzgebung aufgenommen und konkretisiert. Die Missachtung der Tierwürde ist nicht nur verboten, sondern von nun an in all ihren Ausprägungsformen auch strafbar.
- 13.10.2009: Das Bundesgericht bestätigt in letzter Instanz, dass für die beiden Primatenversuche definitiv keine Bewilligung erteilt wird. Die Beschwerden der betroffenen Forscher werden vollumfänglich abgewiesen. Der Entscheid, der nicht in der ordentlichen Dreierbesetzung, sondern in einer – besonders bedeutsamen Fällen vorbehaltenen – Fünferbesetzung gefällt wird, gilt als Meilenstein für den Tierschutz.
In den kommenden Jahren finden in Zürich keine derart belastenden Primatenversuche mehr statt.
- Juli 2014: Das kantonale Veterinäramt bewilligt ein neues Gesuch des Instituts für Neuroinformatik zur Durchführung eines in der höchsten Belastungskategorie eingestuften Affenversuchs. Obschon Fachleute der Ethik, der Veterinärmedizin, der Biologie und der Rechtswissenschaft sich gegen das schwerbelastende Primatenexperiment aussprechen und das Experiment starke Ähnlichkeit mit einem der beiden vom Bundesgericht letztinstanzlich verbotenen Tierversuche aufweist, lehnt die kantonale Tierversuchskommission den Versuch diesmal nicht als Gesamtgremium ab. Drei ihrer Mitglieder jedoch rekurrieren in der Folge gegen die veterinäramtliche Bewilligung.
- 10.12.2015: Der Regierungsrat bewilligt den umstrittenen Affenversuch und weist den Rekurs ab. Dieser Entscheid löst ein breites Medienecho und zahlreiche Reaktionen aus der Bevölkerung aus. Viele Menschen zeigen sich schockiert, dass solche Versuche in der Schweiz bewilligt werden und möchten etwas unternehmen. Die TIR empfiehlt daher die Unterzeichnung der Petition "Stoppt Experimente an Primaten" der drei Trägerorganisationen LSCV, ATRA und AG STG. So kann gegenüber Behörden und Politik ein Zeichen gesetzt werden.
- 26.1.2016: Die drei Tierschutzvertreter der Zürcher Tierversuchskommission ziehen ihren Rekurs an das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich weiter. Gleichzeitig äussern rund 50 gemeinnützige Institutionen aus der ganzen Schweiz in einem offenen Brief an den Regierungsrat ihre Bestürzung über den Entscheid des Regierungsrats. Sie erachten den Tierversuch als unverhältnismässig und gemäss den rechtlichen Vorgaben nicht bewilligungsfähig und die dennoch erteilte Bewilligung als klar rechtswidrig.
Der KKT unterstützt die Tierschutzvertreter in der Tierversuchskommission, die das Rechtsverfahren ansonsten nicht führen könnten, finanziell. Obwohl sie vom Regierungsrat ernannte Delegierte des organisierten Tierschutzes und damit Behördenmitglieder sind, verweigert ihnen der Kanton die nötige finanzielle Unterstützung bei der Ausübung ihres Rechts und ihrer amtlichen Pflicht, gegen rechtswidrig erteilte Bewilligungen einen Rekurs einzureichen. Weil auch der KKT allein nicht über die notwendigen finanziellen Mittel verfügt, sind private Spenden dringend notwendig. Dank einer anonymen Spende kann der offene Brief in verschiedenen Zeitungen abgedruckt werden, um die Bevölkerung zu sensibilisieren. Zahlreiche Menschen zeigen sich spontan bereit, das Verfahren finanziell zu unterstützen.
- 5.4.2017: Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich entscheidet, dass die schwerstbelastenden Gehirnversuche an Primaten an der Universität und ETH Zürich durchgeführt werden dürfen. Den Tierschutzvertretern ist es nicht möglich, das Urteil anzufechten, weil ihnen die Beschwerde an das Bundesgericht prozessrechtlich nicht offen steht. Immerhin stellt das Verwaltungsgericht in einem Nebenverfahren fest, dass die rekurrierenden Kommissionsmitglieder in Ausübung ihres Rekursrechts als Behördenmitglieder eine wichtige öffentliche Aufgabe erfüllen.
- 20.4.2017: Das Zürcher Verwaltungsgericht veröffentlicht sein Urteil über die umstrittenen Affenversuche.
Urteile
- Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich zum Primatenexperiment VB.2016.00048
- Urteilszusammenfassung des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich zur Kostenübernahme VB.2016.00042
- Medienmitteilung des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 20.4.2017: Tierversuch mit Rhesusaffen ist bewilligungsfähig
- Entscheid Regierungsrat des Kantons Zürich RRB Nr. 1114/2015
- Medienmitteilung Regierungsrat des Kantons Zürich vom 10.12.2015: Regierungsrat schützt Tierversuchsbewilligung
- Urteil Bundesgericht vom 7.10.2009: 2C 421 2008
- Urteil Bundesgericht vom 7.10.2009: 2C 422 2008
Medienecho
TIR-Meldungen
- TIR-Newsmeldung vom 3.5.2017: Schweizer Tierschutzorganisationen veröffentlichen gemeinsames Communiqué zu schwerstbelastenden Primatenversuchen
- TIR-Medienmitteilung vom 20.4.2017: TIR kritisiert Bewilligung für umstrittene Primatenversuche scharf
- TIR-Newsmeldung vom 26.01.2016: Schwerstbelastender Primatenversuch: Beschwerde ans Zürcher Verwaltungsgericht und offener Brief an Regierungsrat
- TIR-Newsmeldung vom 11.12.2015: TIR unterstützt Petition für die Abschaffung von Versuchen mit Primaten: Jetzt unterzeichnen!
- TIR-Medienmitteilung vom 10.12.2015: TIR beunruhigt: Regierungsrat bewilligt umstrittenen Affenversuch
- TIR-Newsmeldung vom 10.12.2015: TIR beunruhigt: Regierungsrat bewilligt umstrittenen Affenversuch
- TIR-Newsmeldung vom 25.09.2014: TIR lehnt erneut geplante Primatenexperimente konsequent ab
- TIR-Newsmeldung vom 13.10.2009: Meilenstein für den Tierschutz: Umstrittene Affenversuche bleiben nach Bundesgerichtsurteilen verboten
Weitere Informationen
- Fragen und Antworten zum aktuellen Primatenversuch
- Gemeinsames Communiqué der Tierschutzorganisationen vom 3.5.2017
- Communiqué commun des organisations de protection des animaux de 3.5.2017
- Offener Brief KKT an den Regierungsrat des Kantons Zürich vom 26.1.2016
- Unterstützende Organisationen
- Antwort des Regierungsrats vom 30.11.2016 auf Anfrage von Michael Zeugin (GLP, Winterthur) und Sonja Gehrig (GLP, Urdorf) "Gerichtsverfahren zu Zürcher Tierversuchen"
- TIR-Informationsflyer Nr. 39: Keine Tierversuche an Primaten

Unterstützende Organisationen des offenen Briefes an den Regierungsrat
Der Tierversuch im Detail und seine Güterabwägung
Die Tierversuchspraxis wird diesem gesetzlichen Anspruch im Allgemeinen nicht gerecht. Nur in ganz seltenen Fällen werden Tierversuchsanträge abgelehnt, wie auch ein Blick in die Tierversuchsstatistik des Bundes zeigt. Der sich aktuell im Rechtsverfahren befindende Primatenversuch ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass die Güterabwägung in der Praxis oftmals nicht ernst genommen wird. Eine Besonderheit dieses Versuchsvorhabens ist, dass nicht nur die Gesetzgebung dagegenspricht. Vielmehr existiert eine Rechtsprechung, die das Verhältnis zwischen Leiden des Tieres und menschlichem Nutzen für Forschung dieser Art bereits intensiv untersucht und eindeutig zugunsten der Versuchstiere entschieden hat.
2009 wurden zwei Gesuche für methodisch ähnliche Tierversuche in einem mehrjährigen Rechtsverfahren von sämtlichen Instanzen abgelehnt und den entsprechenden Experimenten durch das Bundesgericht damit letztlich der Riegel geschoben. Der aktuell infrage stehende Tierversuch ist inhaltlich mit den früheren Versuchsanordnungen vergleichbar. Auch er soll der reinen Wissensvermehrung dienen, ohne dass dabei ein direkter Nutzen in Bezug auf menschliche Erkrankungen absehbar wäre. Folglich müsste auch die Güterabwägung das gleiche Resultat hervorbringen wie bei den 2009 abgelehnten Versuchen.
Angesichts des seither sogar noch verstärkten rechtlichen Tierschutzes, insbesondere durch die stärkere Berücksichtigung der Würde des Tieres müsste die Abwägung der sich entgegenstehenden Interessen heute sogar noch deutlicher zugunsten der Versuchstiere ausfallen. Der Entscheid des Regierungsrats zur Durchführung des Tierversuchs steht daher in klarem Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesgerichts aus dem Jahr 2009.
Demgegenüber steht der Erkenntnisgewinn, der aus diesem schwerbelastenden Versuch zu erwarten ist: Grundlegende Daten über Hirnfunktionen, aus denen nicht hervorgeht, ob und in welchem Zeitrahmen sie einen relevanten Beitrag zu einem medizinischen Fortschritt leisten könnten. Dies nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass allfällige Erkenntnisse aus dem Makakengehirn nicht direkt auf das menschliche Gehirn übertragbar sind.
Weil ein konkreter Nutzen aus dem Versuch nicht bezeichnet werden kann, das Leiden der betroffenen Tiere aber als erheblich zu beurteilen ist, muss die Güterabwägung deutlich zugunsten der Versuchstiere und gegen die Durchführung der Experimente ausfallen. Auf Seiten der Tiere fallen zusätzliche Aspekte der Tierwürde ins Gewicht, etwa ihre übermässige Instrumentalisierung, ihre Erniedrigung und der tiefgreifende Eingriff in ihr Erscheinungsbild.