TIR erläutert die rechtliche und praktische Realität der Schweizer Schweinehaltung
Landwirtschaftliche Verbände weisen gerne auf das strenge Schweizer Tierschutzgesetz hin. Staatlich subventionierte Werbung von glücklichen Tieren soll die Lust auf Fleisch ankurbeln und einem allfälligen schlechten Gewissen entgegenwirken. Die Stiftung für das Tier im Recht (TIR) beschäftigt sich intensiv mit den Rechtsgrundlagen und dem Vollzug in der Schweiz – und zeichnet ein gänzlich anderes Bild als Werbung und Branche.
18.11.2024
Dies widerspricht zwar den Grundsätzen des Tierschutzgesetzes, die das Wohlergehen und die Würde von Tieren schützen sollen; weil die Tierschutzverordnung jedoch stets einen Kompromiss zwischen wirtschaftlich interessanter Tiernutzung und Tierschutz darstellt, ist die systematische Missachtung der tierlichen Bedürfnisse auch in der Schweiz an der Tagesordnung. So schreibt die Tierschutzverordnung bezüglich der Haltung von Schweinen beispielsweise weder Auslauf noch Einstreu vor. Ebenso dürfen hierzulande Schweine mit einem Gewicht von 100 Kilogramm immer noch auf weniger als einem Quadratmeter gehalten werden.
Hinzu kommt, dass es um den Vollzug dieser Mindestvorschriften nicht gut steht. Recherchen von Organisationen wie Tier im Fokus oder Verein gegen Tierfabriken zeigen regelmässig drastische Verstösse gegen die Mindestanforderungen auf. Entsprechende Strafanzeigen bleiben in aller Regel jedoch folgenlos, wie die jährlichen Analysen der TIR zeigen. Im Jahr 2017 hat die TIR in ihrer Untersuchung einen Schwerpunkt auf die Schweinehaltung gelegt und zahlreiche Probleme in den Bereichen Kontrollen, Durchsetzung der Tierschutzvorschriften und Sanktionierung von Verstössen festgestellt. Eine Verbesserung der Situation konnte bis heute nicht festgestellt werden.
Somit gehört es zur gerne verschwiegenen Realität der industriellen Schweizer Schweinehaltung, dass mitunter apathische, verhaltensgestörte, teilweise auch kranke und verletzte Tiere mit nur wenig Tageslicht und kaum Beschäftigungsmöglichkeiten in verdreckten und kotverschmierten Betonbuchten leben müssen und auf engstem Raum eingepfercht sind. Dies steht im klaren Gegensatz zur Werbung, etwa von Proviande, der Branchenorganisation der Schweizer Fleischwirtschaft, die jährlich mit mehreren Millionen Franken aus der Staatskasse den Konsumentinnen und Konsumenten Glauben machen darf, dass Schweinen und anderen landwirtschaftlich gehaltenen Tieren ein hohes Ausmass an Achtung und Respekt entgegengebracht werde. In der "Schweizer Fleisch"-Werbung werden wunderschöne Aufnahmen gezeigt von weitläufigen Wiesen und Feldern, die die Tiere in der Realität jedoch kaum je betreten dürfen, und von Schweinen in frischem Tiefstroh – ein Bild, das nur in den wenigsten Ställen so anzutreffen ist.
Zwar wird nach
Branchenangaben rund die Hälfte der in der Schweiz gehaltenen Schweine
nach IP-Suisse-Standard gehalten.
Dieses Label schreibt unter anderem eine bodenbedeckend eingestreute,
trockene, nicht perforierte (d.h. nicht mit Löchern oder Spalten
versehene) Liegefläche vor. Dass etwas derart Grundlegendes wie eine
angenehme Liegefläche einen wesentlichen Bestandteil dieses Labels
ausmacht, zeigt jedoch bereits das tiefe Niveau des Haltungsstandards.
Die Umsetzung der Vorgaben in Bezug auf Einstreu erfolgt in der Praxis
zudem in aller Regel – abgesehen von einzelnen löblichen Ausnahmen –
lediglich minimal, also knapp bodendeckend und nicht, wie in der Werbung gezeigt, mit dicken
Strohschichten, in denen die Tiere sich eingraben und wühlen können.
Eine
im Jahr 2020 eingereichte Motion der grünen Nationalrätin Meret
Schneider (Motion 20.3648),
die als Ergänzung der Mindestvorschriften Einstreu für sämtliche
Schweine verlangte, wurde im Parlament abgelehnt. Die Ignoranz von
Politik und Branche gegenüber den Grundbedürfnissen der von uns
genutzten Schweine wirkt sich bei den sensiblen Tieren in massiven
Beeinträchtigungen ihres Wohlergehens aus und missachtet den sowohl auf
Gesetzes- als auch auf Verfassungsstufe verankerten Schutz der
Tierwürde. Durch diesen wird rechtlich anerkannt, dass Tiere einen
Eigenwert haben, der im Umgang mit ihnen zu respektieren ist.
Den tierlichen Bedürfnissen weit besser entspricht die Freilandhaltung von Schweinen, wie sie in der Schweiz allerdings nur ausnahmsweise anzutreffen ist. So erforscht beispielsweise die Albert Koechlin Stiftung in ihrem Projekt "SchweinErleben" die natürlichen Bedürfnisse von Schweinen und sensibilisiert Schulklassen und die breite Bevölkerung dafür, dass sich Schweine gerne suhlen und im Waldboden in der Erde graben. Auch KAGfreiland, die Silvestri AG und weitere Institutionen setzen sich ebenso wie einzelne landwirtschaftliche Betriebe für eine naturnahe Haltung von Schweinen ein.
Allerdings sind der Freilandhaltung enge Grenzen gesetzt: Sowohl die Gewässerschutzbestimmungen als auch der Platz, den die Tiere benötigen würden, um ihre Bedürfnisse tatsächlich ausleben zu können, lässt diese Haltungsform nur in gewissem Rahmen zu. Mit anderen Worten: Es ist nicht möglich, den aktuell rund 1,3 Millionen Schweinen, die in der Schweiz gehalten werden, Freilandbedingungen zu bieten. Deswegen muss diese Diskussion zwingend im Zusammenhang mit dem Fleischkonsum geführt werden. Dieser ist in der Schweiz ohne Zweifel zu hoch. Zu hoch, um den Tieren ein artgemässes Leben zu bieten, zu hoch, um den Schutz der Umwelt zu gewährleisten, und auch in gesundheitlicher Hinsicht zu hoch. Objektiv betrachtet ist – auch ohne Berücksichtigung des Tierleids – eine drastische Reduktion des Konsums tierischer Produkte somit dringend angezeigt.
Aus ethischer Sicht ist noch einmal auf die Würde der Tiere zurückzukommen: Auch ein Freilandhaltungssystem ist gewissen wirtschaftlichen Interessen unterworfen und umfasst letztlich die Tötung empfindsamer Lebewesen, deren Intelligenz und Emotionalität noch kaum verstanden wird. Auch die Erforschung der Persönlichkeit dieser Tiere steht noch ganz am Anfang. Lebens- und Gnadenhöfe, die diese faszinierenden Tiere über ihre Nutzungsbestimmung hinaus bei sich aufnehmen und sie als Individuen kennenlernen, wissen aber schon heute, dass jedes einzelne Tier einen einzigartigen Charakter aufweist – genau so, wie dies auch bei uns Menschen der Fall ist.
Die TIR appelliert – gerade auch mit Blick auf die Festtage – an alle Konsumentinnen und Konsumenten, sich gut zu informieren und tierfreundlich einzukaufen. Den Gesetz- beziehungsweise Verordnungsgeber fordert sie auf, endlich rechtliche Vorschriften zu erlassen, die sich an den Bedürfnissen der Tiere orientieren und nicht den Nutzungsinteressen der Menschen automatisch Vorrang geben.
Weitere Informationen:
- TIR-Argumentarium zum Thema "Nutztiere und Veganismus"
- SRF "Tagesschau" vom 16.11.2024: Preisgekrönter Schweinezüchter Peter Anderhub aus Muri (mit Vanessa Gerritsen, Mitglied der Geschäftsleitung der TIR)
- TIR-Newsmeldung zu Brandschutzmassnahmen vom 17.5.2024
- Motion 20.3648 "Schlafen im Stroh auch für Schweine"
- Deutsches Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz, Umwelt im Unterricht
- Swissveg, Konsum tierischer Produkte in der Schweiz
- BLV, Schweine halten – rechtliche Vorgaben und Fachinformationen des Bundes
- Greenpeace, Klimakrise: Wir müssen den Fleischkonsum reduzieren
- WWF, Der Appetit auf Fleisch und seine Folgen