TIR kritisiert Gegenentwurf des Bundesrats zur Massentierhaltungsinitiative als unzureichend
In seiner Botschaft zum soeben beschlossenen Gegenentwurf zur Volksinitiative "Keine Massentierhaltung in der Schweiz (Massentierhaltungsinitiative)" räumt der Bundesrat Handlungsbedarf in der Schweizer Nutztierhaltung ein und stellt tierschutzrechtliche Verbesserungen in Aussicht. Gleichzeitig lässt der Entwurf jedoch zentrale Anliegen der Initiative ausser Acht und erweist sich damit als zahnlos und unzureichend. Die Stiftung für das Tier im Recht (TIR) hält den Gegenentwurf deshalb nicht für eine angemessene Alternative zur Initiativvorlage.
21.05.2021
In seiner Botschaft zum Gegenentwurf stellt der Bundesrat richtigerweise fest, dass die Tierschutzgesetzgebung das Wohlergehen des einzelnen Tieres unabhängig von der Anzahl in einem Betrieb gehaltener Tiere schützt und damit einen Individualschutz bietet. Daraus zieht er seine problematische Schlussfolgerung, dass eine Beschränkung der Tierbestandesgrössen überflüssig sei und eine solche keine unmittelbare Verbesserung des Tierwohls mit sich bringen würde. Eine Reduktion der Tierzahlen hätte gemäss Bundesrat massgebliche wirtschaftliche Einbussen bei den Tierhaltern zur Folge. Schliesslich seien die Schweizer Tierbestände aufgrund der Struktur der Landwirtschaftsbetriebe und der nationalen Gesetzgebung im internationalen Vergleich bereits aktuell sehr klein. Dieser Argumentation ist aus folgenden Gründen zu widersprechen:
In der Schweiz sind Geflügelhaltungen mit bis zu 18'000 Tieren erlaubt, was eine angemessene Betreuung des Einzeltieres nachweislich verunmöglicht. Das Individuum geht in solchen Haltungssystemen in der Masse unter. Etliche Tiere versterben im Laufe der Mast qualvoll zwischen ihren Artgenossen. Trotz des gesetzlich verankerten Individualschutzes ist ihr Tod mit einer Mortalitätsrate von bis zu vier Prozent in diesem System einkalkuliert und wird von behördlicher Seite aus Praktikabilitätsgründen in rechtswidriger Weise toleriert. Drohende wirtschaftliche Einbussen allein vermögen eine solche Missachtung der Würde und des Wohlergehens von Tieren nicht zu rechtfertigen und könnten im Übrigen durch entsprechende finanzielle Unterstützung durch die öffentliche Hand abgefedert werden. Der internationale Vergleich der Schweizer Tierbestände ist irreführend: In der Schweiz leben mehr Tiere pro Kopf als in den umliegenden Ländern.
Besonders
stossend ist sodann die Ausklammerung einer ganzen Nutztierkategorie
aus den angekündigten Tierwohl-Verbesserungen – wiederum allein gestützt
auf wirtschaftliche Erwägungen. Die an sich positiv zu bewertende
Absicht des Bundesrates, die Anforderungen des (heute freiwilligen)
RAUS-Programms künftig als Minimalstandard zu verankern, soll nämlich
gerade für das besonders häufig in Massentierhaltung lebende
Mastgeflügel (und ferner für Kaninchen) nicht gelten. Als Grund hierfür
nennt der Bundesrat die Tatsache, dass die aktuell in der Hühnermast
verwendeten Rassen für das RAUS-Programm ungeeignet seien bzw. dies den
Einsatz anderer Rassen mit einer längeren Lebensspanne erfordern würde.
Dabei verkennt der Bundesrat, dass diese Tiere heutzutage in ihrem nur
rund 35 Tage dauernden Leben aufgrund der einseitigen Zuchtausprägung
und der Haltungsbedingungen schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen
wie Atembeschwerden, Fussballenverätzungen und Beindeformationen
erleiden. Gerade in der Masthuhnhaltung sind die Auswüchse der
Massentierhaltung besonders sichtbar und bereits nach heutiger
Gesetzgebung rechtswidrig (siehe TIR-Newsmeldung vom 17.4.2019).
Erst recht bedarf es hier eines Paradigmenwechsels und damit nicht nur einer drastischen Senkung der Tierzahlen, sondern auch einer Abkehr von einseitig auf Höchstleistung gezüchteten Hühnerrassen.
Gemäss Bundesrat soll Mastgeflügel zumindest ein Aussenklimabereich (eine Art Wintergarten) zur Verfügung stehen. Dies entspricht dem heutigen BTS-Standard (Besonders tierfreundliche Stallhaltung), unter dem bereits mehr als 95 Prozent der Schweizer Masthühner leben. Bedauerlicherweise erweist sich auch diese "Tierwohlmassnahme" bei genauem Hinsehen jedoch als Scheinlösung, die nur wenig zur Verbesserung des Lebens der betroffenen Hühner beizutragen vermag, da in aller Regel nur wenige Tiere eines Betriebs in den Genuss der frischen Luft im Aussenklimabereich kommen. Hühner sind hochsoziale Tiere mit komplexen Beziehungsgeflechten. In unnatürlich grossen Herden kann sich ein solches nicht festigen, dauerhafter Stress ist die Folge – dies erst recht, wenn einzelne Tiere sich durch Tausende von Artgenossen den Weg zum Aussenklimabereich bahnen sollen. Zahlreiche Tiere wagen den Gang hin zur frischen Luft daher nicht. Ein Hindernis kann auch die durch die Öffnungen entstehende Zugluft darstellen, die je nach Stallkonzipierung unterschiedlich stark ausfällt. Hinzu kommt, dass Tierhalter den Aussenklimabereich nicht bei jeder Witterung, nur ab einer bestimmten Aussentemperatur und erst ab dem 22. Lebenstag der (rund 35 Tage lebenden) Masttiere öffnen müssen. Ungefähr ab diesem Alter ist bei schnellwachsenden Masttieren jedoch eine mit der hohen Gewichtszunahme verbundene Abnahme der Lauffähigkeit aufgrund vermehrter körperlicher Beschwerden zu beobachten.
Schliesslich warnt der Bundesrat davor, die privaten Bio-Suisse-Richtlinien in die Verfassung aufzunehmen, weil die Vorgaben für diese Normstufe zu detailliert und die Regeln zu statisch seien bzw. im Zeitpunkt ihrer Wirkung nach Ablauf der Übergangsfrist bereits überholt sein würden. In den Übergangsbestimmungen zur Massentierhaltungsinitiative steht demgegenüber explizit, dass die Ausführungsgesetzgebung bezüglich der Würde des Tieres Anforderungen festlegen muss, die mindestens den Anforderungen der Bio-Suisse-Richtlinien 2018 entsprechen. Das bedeutet, dass die Bio-Suisse-Richtlinien als Orientierungshilfe dienen und sich die neu zu verabschiedenden Regelungen in jedem Fall nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen richten müssten. Die Aufnahme der Bio-Suisse-Richtlinien dient in erster Linie als Schutz vor einer Verwässerung der Massentierhaltungsinitiative zum Zeitpunkt ihrer Implementierung und ist keineswegs als oberstes Ziel der Volksinitiative zu verstehen.
Der Wortlaut des direkten Gegenentwurfs entspricht lediglich den Grundsätzen des bereits heute geltenden Tierschutzgesetzes und stellt insofern keinen Fortschritt dar. Die gemäss Botschaft gestützt auf den Wortlaut beabsichtigte Anhebung des Tierschutzmindeststandards ist zu begrüssen, wäre aber bereits unter aktueller Gesetzgebung möglich und notwendig. Die Ausnahme der Geflügelkategorie von der RAUS-Pflicht ist aus Sicht der TIR unhaltbar und festigt eine bereits heute rechtswidrige Praxis. Insgesamt erachtet die TIR den bundesrätlichen Gegenentwurf als unzureichend und als Alternative zum Anliegen der Initiative in zentralen Punkten nicht geeignet.