TIR erfreut über Schutz der Meinungsäusserungsfreiheit
Die Stiftung für das im Recht (TIR) begrüsst das Ende April ergangene Bundesgerichtsurteil in Sachen Vasella und Novartis AG gegen Kessler, Verein gegen Tierfabriken (VgT). Es stellt eine Festigung der freien Meinungsäusserung dar. Diese ist für Tierschutz- und andere Non-Profit-Organisationen oft das einzige und daher unerlässliche Mittel, tabuisierte Missstände und gesellschaftlich tief verankerte Ungerechtigkeiten zu thematisieren und anzuprangern.
25.04.2013
Im August 2009 kritisierte Erwin Kessler, Präsident des Vereins gegen Tierfabriken, die Firma Novartis AG und deren damaligen CEO Daniel Vasella in zwei auf der Vereinshomepage veröffentlichten Artikeln. Kessler griff im ersten Text u.a. die teilweise auf Tierversuchen basierenden Forschungsmethoden des Pharmariesen an und liess verlauten, er sei froh, nicht Daniel Vasella zu sein – auf dessen "mit Massenverbrechen an Tieren gescheffelten Millionen verzichte" er gerne. Im zweiten Artikel nahm Kessler Stellung zu einer in einem Buch über Tierversuche geäusserten Professorenmeinung, die die Anschläge militanter Tierschützer gegen Novartis-Chef Vasella und die Tierversuchsindustrie verurteilt, weil niemand das Recht habe, zwecks Verwirklichung seiner Ideologien das Gesetz zu brechen. Kessler erblickte in dieser Ansicht eine Beleidigung der Hitler-Attentäter, welche versucht hätten, "Massenverbrechen gewaltsam ein Ende zu setzen" und dabei ebenfalls gegen geltendes Recht verstossen hatten. Genauso aber wie in Nazi-Deutschland gewaltfreie, legale Opposition unwirksam gewesen sei, so sei auch "heute die gewaltfreie Opposition gegen das Massenverbrechen an den Versuchstieren" völlig wirkungs- und gegen den Einfluss der Tierversuchsindustrie chancenlos.
In der Folge reichten Daniel Vasella und die Novartis AG beim Bezirksgericht Bülach Ehrverletzungsklage gegen Erwin Kessler ein – dessen Texte würden sich ehrverletzend über sie äussern. Das Bezirksgericht sprach Kessler der Verleumdung schuldig und verhängte eine unbedingte Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 130 Franken. Das Zürcher Obergericht hiess Kesslers Berufung teilweise gut und sprach ihn u.a. für seine Äusserung "auf seine mit Massenverbrechen an Tieren gescheffelten Millionen" frei. Bezüglich der Nazi-Deutschland und die Hitler-Attentäter thematisierenden Passagen wurde der Verleumdungsschuldspruch hingegen bestätigt, die Geldstrafe aber auf 60 Tagessätze à 130 Franken reduziert.
Das Bundesgericht hat auf Kesslers Beschwerde hin dessen Verurteilung durch die vorangehenden Instanzen nun vollumfänglich aufgehoben. In seinen rechtlichen Erwägungen ging das Bundesgericht auf die durch Art. 16 der Schweizerischen Bundesverfassung (BV) und Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) garantierte Meinungs- und Informationsfreiheit ein. Diese verleihe jedem das Recht, "der Öffentlichkeit und den Privatpersonen Meinungen und Informationen ohne Behinderung durch die Behörden zukommen zu lassen". Dieses Recht sei aber nicht grenzenlos, sondern werde beispielsweise durch jene Bestimmungen begrenzt, welche die Rechtsordnung zum Schutz der Ehre aufgestellt habe. Das Bundesgericht befand diese Schutzbestimmungen im vorliegenden Fall jedoch als nicht verletzt.
Hinsichtlich der im ersten Artikel gemachten Aussagen befanden die obersten Richter, die rechtlich zu beurteilenden Passagen seien im Kontext einer die Problematik der Tierversuche und die Frage nach der Legitimität gewaltsamen Widerstandes betreffenden Diskussion gemacht worden. Eine solche Diskussion müsse möglich sein, da "Äusserungen zu politischen Fragen und Problemen des öffentlichen Lebens ein besonderer Stellenwert" zukomme. Kritik müsse auch in bisweilen überspitzter Form zulässig sein, damit die für eine Demokratie zentrale Vertretung verschiedener Auffassungen möglich bleibe.
Das Strafrecht (resp. der Ehrenschutz) dürfe nicht dazu führen, dass aus
Angst vor einer Bestrafung Kritik nicht mehr vorgebracht werde – auch
wenn diese, wie im vorliegenden Fall, pointiert und provokativ geäussert
sei. Gerade die kontroverse Thematik der Tierversuche würde oftmals zu
emotionalen Diskussionen führen, in denen "das Publikum mit
Übertreibungen und scharfen Formulierungen" rechne. Insgesamt blieben
für den Durchschnittsleser von Kesslers Text die Thematik der
Tierschutzgesetzgebung und deren Vollzug im Fokus der Kritik, sodass
nicht von einer exzessiven Äusserung, die nicht mehr vom Recht auf freie
Meinungsäusserung gedeckt sei, gesprochen werden könne.
Bezüglich
Kesslers Ausführungen im zweiten Artikel führte das Bundesgericht aus,
Kessler habe den Vergleich mit Nazi-Deutschland und den
Hitler-Attentätern beigezogen, um seine Auffassung der Legitimität
gewaltsamen Widerstandes resp. der Nutzlosigkeit legaler, gewaltfreier
Auflehnung zu begründen. Die Ziehung dieser Parallelen sei zwar
"absonderlich übertrieben und damit grotesk", doch sei sie gegen den
Autor des Buches, einen Professor, und nicht gegen Vasella gerichtet.Trotz Erwähnung der gegen "Novartis-Chef Daniel Vasella und die
Tierversuchsindustrie" gerichteten illegalen Aktionen der Tierschützer
bestehe der Schwerpunkt der Diskussion in der Widerlegung der These des
obgenannten Professors – die Erwähnung Vasellas sei lediglich am Rande
erfolgt und somit "für den Diskurs zweitrangig" geblieben. Entgegen der
Ansicht der Vorinstanz entschied das oberste Gericht, dass – in den
Augen des Durchschnittslesers – Vasella durch den von Kessler gezogenen
Vergleich nicht "in die Nähe von Hitler" und die Tierversuche der
Novartis nicht "auf die gleiche Stufe wie die Verbrechen des NS-Regimes"
gestellt worden seien. Dass "der eine oder andere Leser den Artikel im
Sinne der vorinstanzlichen Erwägungen interpretiert haben" möge,
genügten nach Ansicht der Bundesrichter nicht, Kessler gegenüber
weiterhin den Vorwurf der Verleumdung aufrecht zu erhalten. Somit wurde
Kesslers Beschwerde gegen den Schuldspruch des Zürcher Obergerichts
gutgeheissen.
Aus Sicht der TIR ist das Urteil zu begrüssen.
Organisationen, die gegen gesellschaftlich tolerierte Missstände
angehen, verfügen nur über sehr eingeschränkte Mittel, um auf die
jeweilige Problematik aufmerksam zu machen – die Möglichkeit weitgehend
freier und ungehinderter Meinungsäusserung ist eines davon. Als
wichtiges Instrument der Öffentlichkeitsarbeit und der Sensibilisierung
der Allgemeinheit darf die Meinungsfreiheit nicht unnötig eingeschränkt
werden. Zu Recht belässt das Bundesgericht in diesem Zusammenhang Raum
für rhetorisch heftig geführte Auseinandersetzungen, in deren Zuge auch
heikle Themen angesprochen werden.