Gemeinsame Medienmitteilung: Tierschutzkritik am Sechseläuten
Kurz vor der Böögg-Verbrennung in Heiden (AR) am 22. Juni publizieren die Stiftung für das Tier im Recht und der Zürcher Tierschutz einen Tierschutzbericht zum Einsatz der Pferde am Sechseläuten. Seit 2015 verfolgen sie den Anlass kritisch. Nach sechs gemeinsamen Berichten mit Verbesserungsvorschlägen zum Wohl der Pferde kommen die beiden Organisationen zum Schluss, dass es den Zünften am Willen fehlt, die Tierschutzdefizite zu beheben.
18.06.2024
Viele Pferde signalisieren Angst, Schmerz und Stress
Wie in den Vorjahren wurden bei zahlreichen Pferden an mehreren Standorten deutliche Anzeichen von Stress und Überforderung mit Foto- und Videoaufnahmen dokumentiert. Durch plötzlichen Lärm (Pauken und Knallereien), bedrohliche Enge und Reize (Schirme, wehende Flaggen), unbekannte Menschen und die ungewohnte Geräuschkulisse wurden viele Pferde in Angst versetzt z.B. Fluchtversuche, Augenweiss sichtbar). Weiter kritisieren die zwei Organisationen das schmerzhafte Überzäumen von Pferden mit erzwungen enger Halshaltung (Hyperflexion, "Rollkur"), die gemäss Tierschutzverordnung ausdrücklich verboten ist, sowie falsch oder zu eng verschnallte Reithalfter und den Einsatz von scharf wirkenden Mundstücken wie Kandaren. Diese führen bei mangelnder Reiterfahrung schnell zu schmerzhaften Einwirkungen im Pferdemaul, was wiederholt beobachtet wurde.
Sedierte Pferde belegen die Problematik
Am Sechseläuten wird gemäss Aussagen des Zentralkomitees der Zünfte Zürichs (ZZZ) rund die Hälfte der Pferde medikamentös ruhiggestellt (sediert). Bei zahlreichen Pferden handelt es sich um zugemietete Tiere, die zu den Reitenden keine feste Beziehung haben. Viele Tiere sind zudem hinsichtlich der Reiz- und Geräuschkulisse am Sechseläuten nicht ausreichend trainiert. Aus Tierschutzsicht ist klar: Pferde, die ohne Sedierung nicht am Anlass teilnehmen können, müssen im Stall bleiben. Es braucht eine Selektion, die nur geeignete, gut vorbereitete Pferde und Reiter zulässt. Auch der Schweizer Rat und Observatorium der Pferdebranche (COFICHEV) empfiehlt, bei Anlässen in der Öffentlichkeit nur spezifisch ausgewählte Pferde und nur stabile Mensch-Pferd-Paare einzusetzen. An Sportanlässen ist jegliche Medikamentengabe ausdrücklich verboten, an kulturellen Anlässen hingegen nicht. Dies ist sehr bedenklich, zumal eine Sedierung die Trittsicherheit der Pferde beeinträchtigt und dadurch das Gefahrenpotenzial für Mensch und Tier steigt. Zudem können schmerzhafte Schwellungen am Penis und gegenteilige Nebenwirkungen wie eine übermässige Empfindlichkeit gegenüber Lärm und schnellen Bewegungen auftreten.
Empfehlungen reichen nicht
Erfreulich ist, dass das ZZZ und
der aktuell amtierende ZZZ-Reiterchef durchaus offen sind für die
Tierschutzkritik und über die Jahre auch Verbesserungen eingeleitet
haben. So wurde das Reitbrevet als obligatorisch erklärt und im
Wartebereich vor dem Umritt die veterinärmedizinische Betreuung
verstärkt sowie das Tränken der Pferde eingeführt. Zudem hat der
ZZZ-Reiterchef die Weisungen zum Schutz von Mensch und Tier verschärft.
Das ist zwar lobenswert, doch handelt es sich dabei lediglich um
Empfehlungen. Solange das ZZZ weder über Kontroll- noch über
Sanktionsmöglichkeiten verfügt, bleiben seine Einflussmöglichkeiten zur
Verbesserung der Tierschutzsituation am Sechseläuten beschränkt.
Unwillen, nicht Unwissen
Die Verantwortung für die Einhaltung der Tierschutzvorschriften liegt in erster Linie bei den einzelnen Zünften, die Pferde mitführen. In ihren ausführlichen Beobachtungsberichten haben die beiden Organisationen die Tierschutzmängel stets dokumentiert und der jeweiligen Zunft zugeordnet. Diese Berichte wurden dem ZZZ und den einzelnen Zünften jeweils zur Verfügung gestellt. Doch die meisten Zünfte scheinen beratungsresistent: Über mehrere Jahre wurden die gleichen Tierschutzmängel – oftmals gar die gleichen Personen, Pferde und Gespanne – kritisiert. Daher gelangen die zwei Organisationen nun an die Öffentlichkeit und erläutern: "Die Fakten und die Forderungen liegen auf dem Tisch, jetzt ist es an den einzelnen Zünften zu handeln."Vision eines tierleidfreien Sechseläutens
Die zwei Tierschutzorganisationen stellen klar, dass ein grober Umgang mit Pferden in der heutigen Zeit keinen Platz mehr hat. "Aus rechtlicher Sicht sind der Einsatz von schmerzhaften Hilfsmitteln, ein grober Umgang mit Pferden sowie Hyperflexion und Sedation als klar tierschutzrelevant einzustufen", so Christine Künzli (TIR). Nadja Brodmann (ZT) ergänzt: "Solch ein Umgang mit Pferden ist nicht mehr zeitgemäss. Eine zunehmende gesellschaftliche Kritik ist daher berechtigt. Die Zünfte müssen sich stärker um das Tierwohl bemühen, sollen Pferde auch künftig Teil des Sechseläutens sein." An der Fasnacht in Stans etwa werden Pferdekutschen seit 2020 durch "Elektrokutschen" ersetzt. Ein Gewinn für die Tiere und die Sicherheit des Publikums. Die beiden Organisationen fordern daher strenge Kontrollen eines jeden Pferdes und eine Selektion für die Teilnahme von Reit- und Wagenpferden sowie den Ausschluss von fehlbaren Personen. Dadurch wird die Anzahl der Pferde massiv sinken, aber die Qualität und die Freude der Bevölkerung am Sechseläuten werden deutlich steigen.
Medienkontakte
MLaw Christine Künzli, Rechtsanwältin, LL.M.
Geschäftsleitung Stiftung für das Tier im Recht
Rigistrasse 9, 8006 Zürich
043 443 06 43
kuenzli@tierimrecht.org
Nadja Brodmann, Zoologin
Geschäftsleitung Zürcher Tierschutz
Zürichbergstrasse 263, 8044 Zürich
044 261 43 36 / 079 334 91 70
nbrodmann@zuerchertierschutz.ch
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