Newsletter TIR-Bibliothek: TIR präsentiert den Lesetipp
Die Stiftung für das Tier im Recht (TIR) stellt mit ihrem zweiten Bibliotheksnewsletter des Jahres 2023 wiederum ausgewählte Neuzugänge vor. Präsentiert werden dabei Bücher, Artikel und Filmbeiträge zu tierrelevanten Themen. Im Fokus der aktuellen Ausgabe steht das Buch "Anders satt – Wie der Ausstieg aus der Tierindustrie gelingt", das eine umfassende Transformation unseres Ernährungssystems vorschlägt und dazu lösungsorientierte Wege aufzeigt.
21.07.2023
Der Ausstieg aus der Tierindustrie ist ein radikaler Schritt, den die Philosophin und Tierrechtsaktivistin Friederike Schmitz in ihrem neuen Buch vorschlägt. Die gegenwärtige Tierhaltung und der Konsum von Tierprodukten zieht eine lange Liste von negativen Auswirkungen mit sich, die neben dem Tierleid und den Klimaemissionen auch gesundheitliche Gefahren für den Menschen darstellen. Kleinere Anpassungen bei Tierschutzvorschriften, um das Leid der Tiere zu verringern, reichen ebenso wie der individuelle Beitrag einer Bevölkerungsminderheit, auf tierliche Lebensmittel zu verzichten oder diese drastisch zu reduzieren, bei Weitem nicht mehr aus, um gravierende Konsequenzen für die Weltgemeinschaft zu verhindern. Friederike Schmitz fordert eine umfassende Transformation von Landwirtschaft und Ernährung, wobei die Nutztierhaltung systematisch abgeschafft werden soll. Landwirtinnen und Landwirte in europäischen Klein- und Mittelbetrieben geraten immer mehr unter Druck, da die Investitionskosten für grosse Maschinen und hochtechnologische Anlagen nicht realisierbar sind. Die staatlichen Zuschüsse für Massenproduktionen, um viel und günstig Fleisch zu produzieren, sind hoch angesetzt. Somit werden Industrie-Massentierhaltungen weiterhin gefördert und jene Betriebe, die tier- und klimafreundlicher produzieren oder dies gerne tun möchten haben das Nachsehen.
Damit der Ausstieg aus der industriellen Tierhaltung gelingen kann, soll gemäss Friederike Schmitz ähnlich dem Konzept "Just Transition" des Klimaschutz-Übereinkommens von Paris, vorgegangen werden. Dr. iur. Charlotte Blattner vom Institut für öffentliches Recht an der Universität Bern hat hierzu einen Aufsatz verfasst, in dem sie betont, dass der Ausstieg nicht jene Personen belasten soll, die der Gesellschaft bislang wichtige Dienste erwiesen haben. Vielmehr ist es Aufgabe der Regierung, die betroffenen Landwirtinnen und Landwirte im gesamten Prozess zu unterstützen. Dazu sind diverse Schritte notwendig, so etwa zeitlich gestaffelte Reduktionsziele für die Tierzahlen. So könnten beispielsweise die Tierbestände innerhalb von fünf Jahren um 30 Prozent, nach zehn Jahren um 70 Prozent und nach 15 Jahren um 95 Prozent reduziert werden. Ausstiegs- und Entschädigungszuschüsse der Regierung könnten hier einen bedeutenden Beitrag leisten. In den Niederlanden besteht bereits ein Programm, das sich "warme Sanierung" nennt und Schweinehalterinnen und -halter beim Ausstieg finanziell unterstützt. Die Regierung will damit gleichzeitig auch gegen die Nitrat- und Phosphorverschmutzung vorgehen, die mit intensiver Tierhaltung einhergeht.
In der Schweiz hat die Philosophin und Landwirtin Sarah Heiligtag, die den Lebenshof Hof Narr betreibt, das Konzept TransFARMation entwickelt, in dem sie landwirtschaftlichen Betrieben beim Ausstieg aus der Tiernutzung hilft. Dabei zeigt sie auf, wie Nutztierbetriebe umgewandelt und mit anderen Einkommensquellen kombiniert werden können. So kann ein Lebenshofkonzept beispielsweise mit Ackerbau verbunden werden, der Nahrungsmittel direkt für Menschen statt für die Tiermast erzeugt. Eine Landwirtschaft ohne das Töten von Tieren ist nicht nur möglich, sie ist gemäss den Erfahrungen des TransFARMations-Netzwerks zweifellos zukunftsfähig. Allerdings werden solche Transformationen bislang noch nicht mit staatlichen Zuschüssen unterstützt. Überdies wird der Anbau von Gemüse und Früchte in der Schweiz im Vergleich zur Tiermast deutlich weniger stark subventioniert, wie die Organisation Swissveg schreibt.
Durch eine Verschiebung der ausbezahlten Direktzahlungen könnte der Staat Anreize schaffen, die es den Schweizer Bauern erleichtern würden, vermehrt auf den Anbau pflanzlicher Nahrungsmittel für den menschlichen Konsum zu setzen.
Friederike Schmitz weist in ihrem Buch im Weiteren auf die vielversprechenden Entwicklungen im Bereich Kultur-Fleisch, auch In-vitro-Fleisch genannt, hin. Hierbei handelt es sich um echtes Fleisch aus dem Bioreaktor statt vom Schlachthof, sofern die kultivierten Zellen pflanzlich ernährt werden. Heute besteht die Nährlösung teilweise allerdings noch aus fetalem Kälberserum, das aus dem Blut ungeborener Kälber gewonnen wird. Aus Tierschutzsicht ist die Gewinnung des Serums insbesondere deshalb abzulehnen, weil die Kälber hierbei mutmasslich einen qualvollen Tod erleiden. Die Klimabilanz von Labor-Fleisch schneidet besser ab als jene von Rindfleisch, jedoch in etwa gleich wie jene von Hühner- und Schweinefleisch.
Intensiv geforscht wird jedoch auch in Bezug auf weitere sogenannte alternative Proteinquellen, die – sofern nicht Insekten als Basis verwendet werden – keinen tierischen Ursprung haben. Dazu gehören etwa Proteine pflanzlicher Herkunft, die zum Beispiel aus Leguminosen, Getreide oder Ölsaaten gewonnen werden. Daneben wird mit Mikro- und Makroalgen, Pilzen und weiteren Quellen experimentiert. Sie alle gelten als ressourcenschonender und spielen teilweise eine bedeutende Rolle im globalen Kohlenstoffkreislauf. So haben etwa Algen, die rasant wachsen können, die Fähigkeit, Kohlendioxid sehr effektiv aufnehmen. Sie brauchen keinen Dünger, und Anbauflächen entfallen, da Algen in Tanks und Röhren kultiviert werden können. Die Erforschung des Potenzials von Algen im Energiebereich und als Plastikersatz steht noch am Anfang. Das in der Schweiz beheimatete Investmentunternehmen Blue Horizon Corporation AG etwa sucht gezielt Investorinnen und Investoren, die ihr Vermögen in Start-ups mit tierleidfreier und nachhaltig ausgerichteter Proteinerzeugung anlegen.
Letztlich wird im Buch auch die Lederproduktion thematisiert, die weltweit als milliardenschweres Geschäft die Tierhaltung und die Schlachtindustrie profitabler macht. Allerdings existieren bereits diverse Alternativen zu tierischem Leder, wie zum Beispiel Leder aus Pilzen, Ananasfasern und weiteren Früchteabfällen, um nur einige zu nennen, die ohne Erdöl und toxische Inhaltsstoffe auskommen.
Friederike Schmitz liefert Bewegründe und Lösungsvorschläge, um ein besseres Mensch-Tier-Umwelt-Verhältnis zu entwickeln. Sie ist überzeugt davon, dass Verbesserungen möglich und eine Systemreform nötig sind. Wege für den Ausstieg aus der Tierindustrie sind vorhanden, damit dieser auch tatsächlich gelingt braucht es jedoch gerechte Bedingungen für alle.
Das Werk "Anders satt – Wie der Ausstieg aus der Tierindustrie gelingt" ist im Handel erhältlich und kann nach Voranmeldung während den Öffnungszeiten auch in der TIR-Bibliothek eingesehen werden, wo Lese- und Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Aktuelle Neuzugänge in der TIR-Bibliothek werden jeweils im Newsletter TIR-Bibliothek vorgestellt.
Weitere Informationen:
- Buch: "Anders satt – Wie der Ausstieg aus der Tierindustrie gelingt" von Friederike Schmitz
- Weitere Titel von Friederike Schmitz: Tierethik - Eine Einführung, Tierethik - kurz und verständlich, Tiere essen – dürfen wir das?
- Buchtipp: "Der Weg zur veganen Welt – Ein pragmatischer Leitfaden" von Tobias Leenaert (deutsche Übersetzung)
- Artikel: Ohne Mist? Bio-vegane Landwirtschaft
Friederike Schmitz

© Grafik: Moena Zeller
