TIR kritisiert Bundesgerichtsentscheid zur Vernachlässigung von Kühen
Am 14. März sprach das Bundesgericht einen Landwirt, der zwei verschmutzte Kühe im Schlachthof angeliefert hatte, vom Vorwurf der Tierquälerei frei. Nach Ansicht der Stiftung für das Tier im Recht (TIR) liegt dem Urteil allerdings eine fehlerhafte Auslegung des Tierquälereitatbestands der Vernachlässigung zugrunde.
19.04.2013
Als ein Landwirt im Januar 2011 drei seiner Kühe beim Schlachthof anlieferte, wurden bei zwei von ihnen Verschmutzungen in Form von Mistrollen an den Vorderknien und den Hintergliedmassen sowie am Bauch festgestellt. Der Landwirt wurde daraufhin in zweiter Instanz vom Kantonsgericht St. Gallen unter anderem der Vernachlässigung seiner Kühe gemäss Art. 26 Abs. 1 lit. a TSchG – also einer Tierquälerei im rechtlichen Sinne – für schuldig befunden.
Gegen dieses Urteil führte der Beschuldigte Beschwerde beim Bundesgericht, in der er unter anderem den Antrag stellte, nicht wegen Tierquälerei nach Art. 26 TSchG, sondern lediglich wegen Missachtung der Vorschriften über die Tierhaltung gemäss Art. 28 Abs. 1 lit. a TSchG – einer sogenannten übrigen Widerhandlung – verurteilt zu werden. Während die übrigen Widerhandlungen aus strafrechtlicher Sicht als blosse Übertretungen gelten und somit nur mit einer Busse geahndet werden können, zählen Tierquälereien zu den Vergehen, die mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bedroht sind.
Das Bundesgericht hiess die Beschwerde in diesem Punkt gut und sprach den Landwirt vom Vorwurf der Tierquälerei frei (Entscheid 6B_635/2012). Aus der Sicht der TIR beruht dieses Urteil allerdings auf einer fehlerhaften Auslegung des Tierquälereitatbestands der Vernachlässigung nach Art. 26 Abs. 1 lit. a TSchG. So stellt sich das Bundesgericht in seinem Entscheid etwa auf den Standpunkt, dass eine Vernachlässigung mit einer Missachtung der Würde des Tieres einhergehen müsse, und schliesst daraus, dass der Tatbestand nur erfüllt sein könne, wenn beim Tier Schmerzen, Leiden, Schäden oder Ängste aufträten. Dabei verkennt es allerdings, dass die Vernachlässigung gemäss Gesetzeswortlaut bereits selber eine Würdemissachtung darstellt und weitere Voraussetzungen für ein Vorliegen einer solchen daher gar nicht mehr zu prüfen sind.
Ausserdem geht das Bundesgericht von einem falschen Würdebegriff aus. Laut Urteilsbegründung soll eine Würdemissachtung vorliegen, "wenn das Wohlergehen des Tieres beeinträchtigt ist, weil Schmerzen, Leiden, Schäden oder Angst nicht vermieden werden". Diese Umschreibung lässt jedoch wesentliche Elemente der in Art. 3 lit. a TSchG festgehaltenen Definition der Tierwürde ausser Betracht. So kann die Würde insbesondere auch durch Erniedrigung, tief greifende Eingriffe in sein Erscheinungsbild oder seine Fähigkeiten oder durch übermässige Instrumentalisierung verletzt werden. Das in der Bestimmung enthaltene Wort "insbesondere" weist zudem darauf hin, dass diese Aufzählung nicht abschliessend ist. Weiter ist die hier vom Bundesgericht vorgenommene Gleichsetzung der Tierwürde mit dem tierlichen Wohlergehen alleine schon vor dem Hintergrund von Art. 1 TSchG als verfehlt zu qualifizieren. Dieser bringt zum Ausdruck, dass der Zweck des Tierschutzgesetzes im Schutz der Würde und des Wohlergehens des Tieres liegt. Diese stellen somit zwei verschiedene geschützte Rechtsgüter dar. Kann keine Beeinträchtigung des Wohlergehens nachgewiesen werden, lässt sich daraus also nicht ableiten, dass auch eine Missachtung der Würde ausgeschlossen ist, so wie es das Bundesgericht in seiner Urteilsbegründung getan hat.
Der Begriff der Vernachlässigung steht im Zusammenhang mit Art. 6 Abs. 1
TSchG, gemäss dem der Halter oder Betreuer eines Tieres verpflichtet
ist, dieses angemessen zu nähren, zu pflegen und ihm die für sein
Wohlergehen notwendige Beschäftigung und Bewegungsfreiheit sowie soweit
nötig auch Unterkunft zu gewähren. Wer diesen Pflichten nicht nachkommt,
begeht eine Vernachlässigung im Sinne von Art. 26 Abs. 1 lit. a TSchG.
Dass sich beim betroffenen Tier tatsächlich Schmerzen, Leiden, Schäden,
Ängsten oder andere Belastungen einstellen, ist nicht erforderlich;
vielmehr liegt das Deliktsmerkmal allein in der Missachtung der
Fürsorgepflicht und der dadurch erhöhten Möglichkeit einer
Beeinträchtigung des tierlichen Wohlergehens. Treten beim Tier
tatsächlich Belastungen in einer gewissen Intensität auf, gelangt der
Tatbestand der Misshandlung (Art. 26 Abs. 1 lit. a TSchG) zur Anwendung.
Bei
der Vernachlässigung handelt es sich somit um ein sogenanntes
abstraktes Gefährdungsdelikt – und entgegen der Auffassung des
Bundesgerichts nicht um ein Erfolgsdelikt. Dies haben auch das
Obergericht des Kantons Thurgau in einem Entscheid von 2007 (Fall TG07/010 in der TIR-Straffälle-Datenbank) sowie implizit sogar das
Bundesgericht selbst in einem Urteil von 2011 (Entscheid 6B_660/2010, E. 1.2.1) anerkannt. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die
vom Bundesgericht im aktuellen Entscheid vertretene Meinung, wonach die
Beeinträchtigung des tierlichen Wohlergehens eine Voraussetzung für die
Erfüllung des Vernachlässigungstatbestands sei, auf rechtlichen
Fehlschlüssen beruht und daher unzutreffend ist.
- NZZ vom 28. März 2013: Unangetastete Tierwürde
- Entscheid des Bundesgerichts vom 14. März 2013 (Urteil 6B_635/2012)
- Entscheid des Bundesgerichts vom 8. Februar 2008 (Urteil 6B_660/2010)
- Straffälle-Datenbank der TIR: Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 11. September 2007 (interne Fallnummer: TG07/010)
- TIR-Kommentar zum Tierschutzstrafrecht: Bolliger Gieri/Richner Michelle/Rüttimann Andreas, Schweizer Tierschutzstrafrecht in Theorie und Praxis (Schriften zum Tier im Recht, Band 1), Zürich/Basel/Genf 2011