Symposium zur Güterabwägung bei Tierversuchen in Wien
Das Messerli Forschungsinstitut an der veterinärmedizinischen Universität in Wien lud am Mittwoch, 27. März 2013, Experten im Bereich des Tierversuchsrechts aus ganz Europa zu einem Syposium zum Thema Güterabwägung bei Tierversuchen ein. Die Stiftung für das Tier im Recht (TIR) referierte dabei über die in der Schweiz bestehenden Vollzugslücken und das entsprechende Verbesserungspotential.
28.03.2013
Die EU-Richtlinie 2010/63/EU verpflichtet ihre Mitgliedsstaaten, neue Bestimmungen zur Verbesserung des Tierschutzes bei Tierversuchen einzuführen. Dabei soll auch die Güterabwägung ihren festen Platz in der Gesetzgebung erhalten. Diese bezweckt, die dem Tier zugemuteten Leiden gegen den erhofften Erkenntnisgewinn abzuwägen, und soll so die Entscheidungsgrundlage dafür liefern, ob ein Tierversuch im Einzelfall gerechtfertigt ist.
Das Messerli Forschungsinstitut wurde von der österreichischen Regierung mit der Umsetzung der besonders schwierigen Frage der ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchen im österreichischen Recht beauftragt. Um ein möglichst funktionierendes Modell für die Praxis erarbeiten zu können, lud das Institut mit der Umsetzung der EU-Richtlinie betrauten Personen sowie Praktikern aus dem Tierversuchsrecht aus diversen Ländern zum Erfahrungsaustausch an die Universität Wien ein.
Teilnehmerin des Symposiums war unter anderem auch Vanessa Gerritsen, stellvertretende Geschäftsleiterin der TIR, die als Mitglied der Tierversuchskommission des Kantons Zürich Einblick in die Umsetzung der schweizerischen Vorgaben hat. In der Schweiz findet die Richtlinie 2010/63/EU keine Anwendung. Die von ihr geforderte Güterabwägung ist aber seit Jahren fester Bestandteil des schweizerischen Tierschutzrechts. In ihrem Referat wies Gerritsen aber auf den Umstand hin, dass die Güterabwägung in der Praxis im Wesentlichen zu einer reinen Formalität verkommt.
Ein medizinischer Nutzen zugunsten des menschlichen Wohls wird in der
behördlichen Begutachtung fast immer über das Leid von Tieren gestellt,
unabhängig davon, wie gering oder unwahrscheinlich er ist.
Hinsichtlich
des tierlichen Leidens besteht keine Obergrenze. Selbst schwerste
Belastungen sind zulässig, sofern ein medizinischer Nutzen geltend
gemacht werden kann. In der Praxis versuchen die kantonalen Behörden
vorwiegend, die Belastungen für die Tiere innerhalb des jeweiligen
Versuchsvorhabens zu reduzieren. Eine eigentliche Abwägung von Nutzen
und Tierleid – und somit eine vertiefte Auseinandersetzung mit der
Frage, ob die Durchführung des Tierversuchs an sich gerechtfertigt ist –
erfolgt aber in kaum einem Fall. Insofern besteht in der Schweiz ein
gravierendes Vollzugsdefizit.
Entsprechend wichtig war es Vanessa Gerritsen, auf die Gefahr von
Vollzugslücken hinzuweisen. Allein die Festschreibung einer
Güterabwägung im Gesetz hilft den Versuchstieren noch nicht. Es reicht
nicht aus, den kantonalen Behörden die schwierige und
verantwortungsvolle Aufgabe der Interessenabwägung lediglich zu
delegieren. Vielmehr müssen die zuständigen Gremien von Gesetzgeber und
Rechtsprechung dazu angehalten werden, kritische Grundsatzfragen zu
stellen und auch von der gängigen Praxis abweichende Entscheidungen zu
treffen.
- Paper Vanessa Gerritsen: "Taking Ethical Considerations Into Account? Methods to Carry Out the Harm-Benefit Analysis According to the EU Directive 2010/63/EU - Evaluation Process for Animal Experiment Applications in Switzerland"
- Präsentation Vanessa Gerritsen: "Taking Ethical Considerations Into Account?"
Prof. Dr. Herwig Grimm, Leiter der Abteilung Ethik der Mensch-Tier-Beziehung am Messerli Forschungsinstitut

Vanessa Gerritsen und Samuel Camenzind

Messerli Forschungsinstitut, Veterinärmedizinische Universität Wien
