Schweizer Tierschutzrecht: Nicht so gut wie Schweizer Schokolade
Die Schweiz rühmt sich gerne, über eines der strengsten Tierschutzgesetze zu verfügen. Bei einer genaueren Betrachtung zeigt sich aber, dass auch hierzulande noch immer Haltungsformen und Praktiken im Umgang mit Tieren zulässig sind, die deren Wohlergehen und Würde erheblich einschränken. Um Tiere intensiv zu nutzen, wird ihr Leiden bewusst in Kauf genommen und mithilfe von Rechtsvorschriften legitimiert. Die heutigen tierschutzrechtlichen Bestimmungen bilden lediglich Minimalstandards, deren Einhaltung den betroffenen Tieren bei Weitem noch kein artgerechtes oder belastungsfreies Leben garantieren. Aber auch hinsichtlich des Vollzugs der Tierschutzgesetzgebung durch die zuständigen Veterinär- und Polizeibehörden, Staatsanwaltschaften und Gerichte besteht dringender Handlungsbedarf: Das Leiden von Tieren wird systematisch bagatellisiert, tierschutzwidrige Haltungen werden zu lange toleriert und Tierquälereien zu wenig streng bestraft.

Huhn
Die heutigen Tierschutzbestimmungen legitimieren noch immer weitgehende Einschränkungen der Bedürfnisse der Tiere, beispielsweise bezüglich ihrer Bewegungsfreiheit, ihres Soziallebens, ihrer Fütterung oder der Ausgestaltung ihrer Unterkunft. So etwa dürfen Rinder bis zu 275 Tagen im Jahr und bis zu zwei Wochen am Stück angebunden und Sauen bis zu zehn Tagen in engen Kastenständen gehalten werden. Schweinen, Hühnern und Kaninchen muss nach Tierschutzrecht kein Auslauf und Tauben kein Freiflug gewährt werden. Das ständige Zurverfügungstellen von Wasser ist nicht für alle Tiere verpflichtend vorgeschrieben und für ein Mastrind mit einem Gewicht von 450 Kilogramm sieht die Tierschutzverordnung lediglich eine Mindestfläche von drei Quadratmeter vor.
Massentierhaltung ist in der Schweiz eine Realität und rechtlich zulässig. Dies zeigt sich unter anderem am Beispiel der Geflügelindustrie: Die überwiegende Mehrheit der über 13 Millionen in der Schweiz gehaltenen Hühner lebt in Hallen mit mehreren Tausend Tieren. So ist bis zum 28. Masttag beispielsweise die Haltung von bis zu 27'000 Masthühnern erlaubt. Ab dem 43. Masttag ist ein Höchstbestand von bis zu 18'000 Tieren zulässig. Die Hochleistungszucht und die Haltungsbedingungen führen dazu, dass bei Masthühnern vielfach schmerzhafte Gelenkschäden sowie Geschwüre und Entzündungen an den Füssen auftreten. Gemäss Angaben der Geflügelbranche sterben bis zu vier Prozent der Tiere bereits vor der Schlachtung. Bei Legehennen kommt es zudem bei fast allen Tieren zu Knochenbrüchen infolge Kalziummangels sowie oftmals zu Eileiterentzündungen.
Im Rahmen der Eierproduktion werden in der Schweiz überdies jedes Jahr rund 3,5 Millionen männliche Küken an ihrem ersten Lebenstag als "industrieller Abfall" vergast, da sie keine Eier legen und somit für die Produzenten "wertlos" sind. Da die einseitig auf höchste Legeleistung ausgerichteten Tiere nur wenig Fleisch ansetzen, sind sie auch für die Mast nicht interessant. Dieses höchst fragwürdige Vorgehen in der Eierproduktion widerspricht klar dem in der Bundesverfassung wie auch im Tierschutzgesetz verankerten Prinzip des Schutzes der Tierwürde. Durch das Töten der Küken als unerwünschtes Nebenprodukt wird deren Eigenwert vollständig missachtet. Dennoch wird die Praktik von der Tierschutzverordnung erlaubt.
Kaninchen
Zahlreiche Tierarten leben in freier Wildbahn in Familien, Rudeln oder Schwärmen. Gemäss Schweizer Tierschutzrecht haben Tiere, die in menschlicher Obhut gehalten werden, Anspruch darauf, dass ihr natürliches Verhalten nicht gestört und ihre Anpassungsfähigkeit nicht überfordert wird. Ein natürliches Verhalten setzt unter anderem voraus, dass Tieren, die natürlicherweise in sozialen Gruppen leben, angemessene Kontakte zu Artgenossen ermöglicht werden. Das Zusammenleben mit Artgenossen und die damit verbundene Erfüllung sozialer Bedürfnisse stellen elementare Faktoren für die Sicherstellung des Wohlergehens der betreffenden Tiere dar.
Wie die Sozialkontakte konkret auszugestalten sind, wird für die einzelnen Tierarten in der Tierschutzverordnung individuell festgelegt. Dabei zeigt sich, dass der Grundsatz des Tierschutzgesetzes, wonach die Tiere die Möglichkeit haben sollen, ihre sozialen Bedürfnisse auszuleben, gestützt auf wirtschaftliche Interessen weitgehend ignoriert wird. So dürfen etwa Schafe, Ziegen oder Pferde dauerhaft einzeln gehalten werden, sofern ihnen Sicht-, beziehungsweise Sicht-, Hör- und Geruchkontakt zu anderen Artgenossen gewährt wird. Ebenso ist es rechtlich erlaubt, Kälber in sogenannten Kälber-Iglus einzeln zu halten, sofern sie Sichtkontakt zu Artgenossen haben. Noch immer zulässig ist zudem die Einzelhaltung von Kaninchen, die älter sind als acht Wochen. Dabei müssen sie lediglich andere Kaninchen riechen und hören können. Die ständige Einzelhaltung sozial lebender Tiere bedeutet für diese erhebliches Leid und verstösst gegen Leitgedanken des Schweizer Tierschutzgesetzes, wonach die Tiere in ihrem Wohlergehen und ihrer Würde zu schützen sind.


Hund
Für die Umsetzung des Tierschutzrechts sind die Kantone beziehungsweise die kantonalen Veterinärbehörden zuständig. Sie haben dafür zu sorgen, dass die Bestimmungen entsprechend ihrem Wortlaut zur Anwendung gelangen. Bei Verstössen müssen die Veterinärämter den tierschutzkonformen Zustand wiederherstellen und die notwendigen Massnahmen ergreifen, um das Wohlergehen der betroffenen Tiere sicherzustellen. Die Analyse des Tierschutzvollzugs zeigt aber, dass die Behörden ihre verwaltungsrechtlichen Instrumente in der Praxis oftmals gar nicht oder nicht adäquat anwenden. So besteht eine schweizweite Tendenz der Verwaltungsbehörden, Tierschutzverstösse zu bagatellisieren und erst dann Massnahmen zu ergreifen, wenn die Schwelle zur Tierquälerei bereits überschritten worden ist. Immer wieder gelangen Fälle unzureichender Tierhaltungen an die Öffentlichkeit, in denen den Behörden die Missstände zwar seit Jahren bekannt waren, sie aber keine konsequenten Massnahmen – wie etwa die Beschlagnahmung von Tieren oder das Aussprechen eines Tierhalteverbots – ergriffen haben.
Selbstverständlich haben die Veterinärbehörden stets das Verhältnismässigkeitsprinzip zu beachten, jedoch mit klarem Schutzauftrag in Bezug auf die Tiere. In der Praxis werden bei der Beurteilung der Verhältnismässigkeit allerdings oftmals die (wirtschaftlichen) Interessen des fehlbaren Tierhalters höher gewichtet werden als die Leiden der betroffenen Tiere. Es besteht aber kein rechtlicher Anspruch, Tiere zu halten. Das Tierschutzrecht bezweckt nicht die Ermöglichung der Tierhaltung um jeden Preis, vielmehr dienen die Schutzbestimmungen dazu, eine solche nur dann zuzulassen, wenn das Tierwohl sichergestellt ist.
Gerade Haltungsmängel, die die medizinische Versorgung der Tiere oder deren Fütterung, Pflege oder Beschäftigungsmöglichkeiten betreffen, werden von den Veterinärbehörden oftmals bagatellisiert, wenngleich die Erfahrung zeigt, dass Tierhaltungen, die mehrfach beanstandet werden müssen, ein hohes Eskalationspotenzial aufweisen. Obwohl die Veterinärämter verpflichtet sind, bei Vorliegen eines strafbaren Verstosses Strafanzeige zu erstatten, bringen sie auch erhebliche Tierschutzverstösse häufig nicht direkt zur Anzeige, wie die Praxis zeigt. Stattdessen werden die Tierhaltenden teilweise mehrfach mittels Verfügung verwarnt und die Verstösse gegen das Tierschutzgesetz den Strafverfolgungsbehörden erst im mehrfachen Wiederholungsfall gemeldet.
Pferd
Im Bereich des Tierschutzrechts ist eine konsequente Umsetzung der Bestimmungen einerseits wichtig, um von Tierschutzwidrigkeiten betroffenen Tieren direkt zu helfen und weiteres Leid zu vermindern. Anderseits geht es auch darum, Tierschutzverstösse strafrechtlich zu ahnden, um potenzielle Tierquäler abzuschrecken und weitere Tierschutzdelikte auf diese Weise präventiv zu verhindern. Die strafrechtliche Beurteilung von Tierschutzverstössen durch die zuständigen Behörden und Gerichte ist in vielen Bereichen aber noch immer mangelhaft. So tendieren die Staatsanwaltschaften und Gerichte dazu, die schutzwürdigen Interessen von Tieren in Tierschutzstrafverfahren nur unzureichend zu berücksichtigen und tierliches Leiden zu bagatellisieren. Dies zeigt sich einerseits darin, dass in der Praxis Tierschutzverstösse oftmals auch dann als Übertretung – die lediglich eine Busse zur Folge haben – und nicht als Tierquälereien – die mit einer Geld- oder eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren zu ahnden sind – eingestuft werden, wenn die Tiere im konkreten Fall erheblich gelitten haben. Aus Sicht des Tierschutzes sind solche Fehlurteile umso prekärer, als Veterinärbehörden ein Tierhalteverbot regelmässig nur dann aussprechen, wenn ein Urteil wegen eines Tierquälereidelikts vorliegt – obwohl dies keine zwingende Voraussetzung darstellt. Hinzu kommt, dass die Strafverfolgungsbehörden den gesetzlich vorgesehen Strafrahmen bei Weitem nicht ausschöpfen. Eine unbedingte Freiheitsstrafe für ein reines Tierschutzdelikt wird nur sehr selten ausgesprochen. Die genannten Mängel lassen auf fehlende Sensibilität und Fachkompetenz der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte im Bereich des Tierschutzstrafrechts schliessen.
Die TIR geht zudem von einer hohen Dunkelziffer nicht verfolgter Tierschutzverstösse aus. Die Haltung und Nutzung von Tieren sowie ihr Einsatz in Tierversuchen und zu Sport- oder Dienstzwecken ist nicht selten mit einem erhöhten Gefährdungspotenzial für das Wohlbefinden der betroffenen Tiere verbunden. Angesichts des Umstands, dass hierzulande viele Millionen von Tieren gehalten und genutzt werden, ist die Zahl der abgeschlossenen Strafverfahren mit knapp 2000 pro Jahr sehr tief. Die TIR vermutet daher, dass viele Tierschutzverstösse gar nicht erst entdeckt oder von den zuständigen Behörden nicht ernst genommen werden.

Expertise und Engagement TIR
Die Stiftung für das Tier im Recht (TIR) analysiert seit bald 30 Jahren die gesetzlichen Bestimmungen des Schweizer Tierschutzrechts und beobachtet schweizweit deren Vollzug in der kantonalen Praxis. Sie macht Mängel im Recht und im Vollzug sichtbar und setzt sich für die rechtliche Besserstellung von Tieren sowie für eine konsequente Umsetzung des auf Verfassungs- und Gesetzesebene verankerten Prinzips des Schutzes der Tierwürde ein. Die TIR bringt ihre Tierschutzforderungen im Rechtsetzungsprozess ein und arbeitet hierfür mit Politikerinnen und Politikern zusammen. Sie bildet zudem Tierhaltende, Behörden und Juristen im Tierschutzrecht aus und bietet mit ihrer umfangreichen publizistischen Tätigkeit und ihrer Bibliothek allen Interessierten einen immensen Informationsfundus zu tierrelevanten Fragestellungen.
Im Bereich des strafrechtlichen Tierschutzvollzugs führt die TIR eine Datenbank, die sämtliche dem Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) gemeldeten Schweizer Strafentscheide im Bereich des Tierschutzrechts umfasst und den Behörden als wichtige Vollzugshilfe dient. Sie betreibt überdies einen kostenlosen Rechtsauskunftsdienst, über den zahlreiche Hinweise zum mangelhaften Tierschutzvollzug bei ihr eingehen. Als unabhängige Organisation, die mit Behörden, Interessenorganisationen und Fachverbänden auf eidgenössischer und kantonaler Ebene zusammenarbeitet, verfügt die TIR aufgrund ihrer Erfahrung und ihres breiten Einblicks in den Tierschutzvollzug auf verschiedenen Ebenen über die notwendige Expertise zur Beurteilung von Kontrollsystemen und Mängeln bei der Umsetzung der Tierschutzvorschriften. Die TIR wird deshalb regelmässig von öffentlichen und privaten Institutionen als Fachstelle für die Analyse des Tierschutzrechts sowie des Tierschutzvollzugs beigezogen.