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Literatur-Detail

Titel: Tierschutz als Agrarpolitik - Wie das deutsche Tierschutzgesetz de industriellen Tierhaltung den Weg bereitete
Autor: von Gall Philipp
Enthalten in: --
Kategorie: Nutztiere
- Allgemeines
ISBN: 978-3-8376-3399-3
Herausgabeort: Bielefeld
Jahr: 2016
Auflage: 1
Seiten: 311
Signatur: Von - Nutztiere: Allgemeines
Inhalt: Seit Langem ergehen in Deutschland Forderungen an die Politik, Tiere in der Agrartierhaltung besser zu schützen. Gleichzeitig legitimieren rechtliche Mindestanforderungen die Tierhaltung im Namen eines Tierschutz-Sachverstandes.

Philipp von Gall untersucht die Verbindung beider Umstände und begründet auf Basis philosophischer Arbeiten u.a. von Peter Goldie, Markus Wild und Cora Diamond, warum die vor rund 40 Jahren beschlossenen Voraussetzungen des Sachverstandes neu verhandelt werden sollten. Er zeigt: Erst das Ende der Ausblendung der tierlichen Subjektivität und der menschlichen Emotion aus der Entscheidungsfindung wird dabei helfen, gesellschaftlich akzeptierte Kompromisse zu erreichen.

Klappentext
Rezension: Philipp von Gall leistet mit seiner Monografie Tierschutz als Agrarpolitik einen wesentlichen Beitrag zu einem historisch informierten Verständnis der definierenden Parameter des deutschen staatlichen Tierschutzverständnisses. Er ermöglicht damit allen an politisch, ethisch oder juristisch geprägten Tierschutz-und Tierrechtsfragen Interessierten Einsichten in die fundamentalen juridischen Widerstände gegen eine zunehmende Berücksichtigung tierlicher Interessen.

In einem historisch-analytischen Teil zeigt er zunächst die Entstehungsumstände des gegenwärtig geltenden Tierschutzgesetzes sowie die entscheidenden Kontinuitäten mit dem 1933 verabschiedeten Vorläufer auf. Von Gall dokumentiert, wie mit dem Ziel – bzw. unter dem Vorwand – einer Verwissenschaftlichung des Tierschutzes der Common Sense in Fragen von tierlichem Leiden und Wohlbefinden suspendiert und Kritikern konkreter Tiernutzungen einerseits die Deutungshoheit über die fragliche Praxis genommen und andererseits die Beweislast für eine unverhältnismäßige Schädigung der Tiere aufgebürdet wurde. Im Fokus der gesamten Untersuchung stehen dabei die für agrarisch genutzte Tiere relevanten Regelungen. Die Analyse historischer Gesetzestexte wird in transparenter Weise durch vorhandene Sekundärliteratur ergänzt; andererseits erweitert von Gall aber auch die Untersuchungsbasis um unveröffentlichtes Archivmaterial, sodass die Arbeit beanspruchen kann, mit der Neubewertung bereits diskutierter rechtsgeschichtlicher Entwicklungen einen genuin empirischen Beitrag zu verbinden.

In einem philosophisch-kritischen Teil untersucht er anschließend die Leitbegriffe und Grundsätze der Gesetzesreform auf ihre verborgenen ethischen und geistphilosophischen Vorannahmen. Er argumentiert dafür, die explizit erwünschte Ausklammerung von Emotionen aus dem staatlicherseits sicherzustellenden Tierschutz als eine Strategie der gesellschaftlichen Verdrängung zu verstehen (256), die das Meinungsbild zu Fragen des Mensch-Tier-Verhältnisses systematisch verzerrt (230ff.), zu einer „Deprivation der moralischen Sprache“ (253) und sogar zur Ausgrenzung der Ethik (nicht aber moralischer Vorannahmen) aus dem Tierschutz überhaupt führt (255). Historische und philosophische Analyse stützen das Gesamturteil, wonach die Einschätzung, das TierSchG schütze die Interessen der Tiere vor den Auswirkungen der ökonomischen Interessen ihrer Nutzer, schlicht ein Missverständnis der eigentlichen Ausrichtung des Gesetzes darstellt (263), es dem deutschen Tierschutzgesetz also im Kern nicht um den Schutz der Tiere geht.

Der erste Teil der Untersuchung legt anhand von Quellen aus dem Reformprozess „Rechts-“ (59) und damit „Investitionssicherheit“ (66) für die tiernutzende Agrarindustrie als einflussreichere Ziele des Gesetzgebungsverfahrens nahe. Dies ist für von Gall nur einer der Gründe, die ideengeschichtliche Einordnung der Reformergebnisse als Überwindung des Anthropozentrismus im Tierschutz zurückzuweisen (56). Daneben bestreitet er, dass ältere, partikularstaatliche deutsche Tierschutzgesetze aufgrund von Klauseln, die die Strafbarkeit von Tierquälerei an deren öffentliche Erscheinung binden, als rein anthropozentrisch motiviert, nämlich ausschließlich um die menschliche Sittlichkeit besorgt gebrandmarkt werden dürften. Die Aufnahme entsprechender Öffentlichkeitsklauseln zeugt für von Gall weniger von einem Verständnis von Tierschutz als bloßem pädagogischen Mittel als vielmehr von einem „rechtsmethodischen Ansatz“ – also einer pragmatischen Einschränkung, nicht moralischen Grundhaltung (vgl. 44-50). Im Folgenden zeigt von Gall auf, dass sich schon die Propaganda um das Gesetz von 1933 der Idee der Ablösung eines anthropozentrischen durch einen um das Tier selbst bemühten Tierschutz bediente (54), während gleichzeitig – wohl auf Betreiben Görings – mit der Einführung des Begriffs eines „vernünftigen, berechtigten Zweckes“ weitreichenden Ausnahmeregeln vom Verbot der Tierquälerei der Weg geebnet wurde (53). Von Gall verlegt sich damit keineswegs auf ein bloßes argumentum ad Hitlerum, sondern liefert vielmehr einen Nachweis des sich durchziehenden Motivs der Nutzungsinteressen als bestimmender Größe für die Gestaltung vermeintlicher Tierschutzregelungen.

Ein zentraler Kritikpunkt von Galls an den 1972 beschlossenen Veränderungen des deutschen Tierschutzrechts betrifft die damit verfolgte Ersetzung eines angeblich emotional geprägten Tierschutzes durch einen wissenschaftlich definierten. Dazu belegt er zunächst im ersten Teil der Untersuchung anhand einer Vielzahl entsprechender Bekundungen in Dokumenten aus dem sechsjährigen Reformprozess, dass die Verwissenschaftlichung oder Versachlichung das wesentliche unter den öffentlich vertretenen Anliegen der Reform war. Tierärzte, die in das Projekt der Leistungssteigerung agrarisch genutzter Tiere entscheidend mit einbezogen waren (35f., 55) und gegen die Kritik an der angestrebten Versachlichung darauf hinwiesen, dass es sich bei Tieren immer noch um „Materie“ handele (102), und Ethologen (131) beförderte diese vermeintliche Verwissenschaftlichung zu Tierschutzexperten, ohne transparent zu machen, welche moralischen Vorannahmen damit für das Tierschutzverständnis leitend wurden. Von Gall zeigt, welche folgenschweren Festlegungen damit einhergingen, die Bewertung der Lebensbedingungen der von der Agrarindustrie genutzten Tiere in die Hände der Nutztierethologie zu legen: Wettbewerbsfähige (128) Haltungsformen wurden von vornherein zu Rahmenbedingungen für die Definition und Feststellung tierlicher Bedürfnisse (122, 123); innerhalb dieses Rahmens wurde arttypisches bzw. Normalverhalten zum Maßstab für tierliches Wohlbefinden (160), und die „Belange der Tiere“ wurden auf das „exakt“ Feststellbare beschränkt (124). Mit der Überlebens- und Fortpflanzungsrate wurden ökonomisch relevante Faktoren zu den wichtigsten Indikatoren für tierliches Wohlbefinden, worunter man einen „ungestörten […] Ablauf der Lebensvorgänge“ verstand (190, 191).

Unter dem Diktum der Versachlichung wurden zugleich zwei Dimensionen genuin subjektiven Erlebens als irrelevant oder unzugänglich aus dem Tierschutz ferngehalten: nämlich die tierliche Subjektivität auf der einen (143), die menschliche Emotionalität auf der anderen Seite (131). Demgegenüber weist von Gall mit Wilds Ansatz der Teleosemantik (177ff.) sowie Überlegungen zur Wahrnehmbarkeit (fremder) mentaler Zustände (als „verkörperter“ Zustände) von Jamieson und Krueger/Overgaard (194ff.) aktuelle Versuche aus, menschliche und tierliche Subjektivität der Diskussion verfügbar zu machen. Im Zuge dessen macht er auch deutlich, dass das Verständnis von Wohlbefinden als Abwesenheit von Leid den Maßstab für die Lebensqualität von Tieren einseitig verkürzte, indem es Freude als genuin positive Emotion übersah (202, 203). Das so verknappte Wohlbefinden muss damit als Ausgangspunkt für den vermeintlichen Kompromiss zwischen tierlichen und ökonomischen Interessen von vornherein umso problematischer erscheinen (210).

Schließlich zeigt von Gall in einer kritischen Auseinandersetzung mit den (möglichen) Argumenten für die offizielle Ausblendung menschlicher Emotionen, dass mit dieser Ausblendung eine Verarmung und Verfälschung des Diskurses einhergehen muss, weil der kognitive Gehalt der Emotion, der eine mögliche ethische Position markiert, als Bestandteil des öffentlichen Meinungsbildes und individueller, innerer Konflikte verloren geht (230ff.). Wenn so etwas wie Mitleid unter dem Vorwand der Sachlichkeit keine zulässige Haltung in der öffentlichen Auseinandersetzung zum Umgang mit Tieren ist, können widersprüchliche Einstellungen zu Tieren (z.B. Nutzungsinteresse plus Mitleid) nicht als solche nennbar und einer Kritik zugänglich gemacht werden (237, 250, 252f.). Eine Ethik jenseits der moralischen Vorannahmen der Nutztierethologie hat aufgrund dieser vielfältigen Einschränkungen und Verkürzungen in der gesetzlich festgeschriebenen Tierschutzpolitik also eigentlich gar keinen Platz (255).

Indem er in einer interessanten historischen Rekonstruktion die „Abkehr von Begriffen der öffentlichen Moral“ (69) nachzeichnet und die Strategie der vermeintlichen Versachlichung einer kritischen Analyse unterzieht, stellt von Gall das Prädikat „ethisch“ für die deutsche Tierschutzgesetzgebung als Euphemismus bloß (274). Seine Kritik an der Verwissenschaftlichung des Tierschutzes ließe sich sogar noch einen Schritt weiterführen: Die Umdeklarierung von Fragen des Tierschutzes zu Fragen der Ethologie bedeutet nicht nur eine „soziale Deprivation“, insofern sie die Teilhabe am öffentlichen Diskurs über Tierschutz- und Tierrechtsfragen erschwert (253), sondern qua Umsortierung von Fragen der Moral zu Fragen des (naturwissenschaftlichen) Sachverstands (vgl. 117) stellt sie auch einen Kategorienfehler dar, der zu einem fortwährenden Verstoß gegen die Trennung von Seins- und Sollens-Aussagen auffordert. Von Galls eindrucksvolle Aufarbeitung der Entstehung des Tierschutzgesetzes hilft zu verstehen, wie es zu dieser Fehlnormierung und der dadurch geprägten diskursiven Schieflage kommen konnte.

Frauke Albersmeier
Schlagworte: Nutztiere Landwirtschaft Nutztierhaltung Recht Deutschland Tierschutzrecht BML Gesetzesreform 1972 Tierschutzgesetz Novellierung Vernünftiger Grund Lebensrecht Tötungsfrage Landwirtschaft Psychologie Verdrängungsmechanismen Tierethik Tierphilosophie
Sprache: Deutsch / German
Medium: Buch
Verlag: transcript Verlag
Status: Ausgeliehen