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Literature Detail

Title: Das Handeln der Tiere - Tierliche Agency im Fokus der Human-Animal-Studies
Author: Wirth Sven, Laue Anett, Kurth Markus, Dornenzweig Katharina, Bossert Leonie, Balgar Karsten (Hrsg.)
contained in:
Category: Weitere Bereiche
- Mensch-Tier-Beziehung
ISBN: 978-3-8376-3226-2
Place of publication: Bielefeld
Year: 2016
Edition: 1
Pages: 269
Signature: Wir - Weitere Bereiche: Mensch-Tier-Beziehung
Content: Dieser transdisziplinäre Sammelband, ein Projekt des »Chimaira - Arbeitskreis für Human-Animal Studies«, widmet sich als erste deutschsprachige Publikation den vielfältigen Fragen nach tierlicher Handlungs- und Wirkungsmacht. Die Human-Animal Studies nehmen sich damit einer Leerstelle in der bisherigen Forschung um das zentrale Konzept der Agency an, welches in den verschiedensten Disziplinen auf der Tagesordnung steht. Dabei kontrovers diskutierte Ansätze jenseits des Anthropozentrismus, wie z.B. die Akteur-Netzwerk-Theorie und der New Materialism, werden erstmalig explizit auf tierliche Akteur_innen fokussiert.

Klappentext
Review: Den Herausgebern dieses interdisziplinär ausgerichteten Sammelbandes zufolge besteht die Aufgabe der relativ jungen Disziplin der Human-Animal Studies (HAS) darin, verschiedene Mensch-Tier-Verhältnisse in ihrer Breite und Ambivalenz zu studieren und darzustellen. Die Frage nach „tierlicher Agency“ stelle eine Forschungslücke dar, und mit diesem Band möchten sie die Diskussion um tierliche Agency vorantreiben. Sie möchten deutlich machen, wie komplex die Debatte und wie problematisch eine Übertragung bisheriger, auf den Menschen ausgerichteter Agency-Konzepte auf Tiere sei.

Fest stehe, dass die Trennung zwischen Mensch und Tier kaum noch haltbar sei, und auch, dass „Tiere“ nicht als eine homogene Gruppe aufzufassen seien. So zeigten einige Tiere in Tests immer wieder Fähigkeiten, die man ihnen auch innerhalb der meisten Konzepte von Agency abgesprochen hatte. Tatsächlich sei keines der hier einleitend vorgestellten Konzepte auf Tiere übertragbar, da sie allein auf den Menschen und menschliches Handeln ausgelegt seien. Eine interdisziplinäre Analyse und Kritik dieser könne aber helfen, um herauszufinden, welche Kriterien tierliche Agency erfüllen müsse, und genau zu dieser Annäherung sollen die im Folgenden zusammengetragenen Texte beitragen.

Im ersten Beitrag des theoretischen Teils des Sammelbandes widmet sich Mieke Roscher aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive zunächst der Genese und Kritik verschiedener Agency-Begriffe. Im Fokus steht die Frage, ob Tieren analog zum Menschen „Handlungsmacht“ zukomme, und wenn ja, in welcher Weise Tiere auf soziale und historische Prozesse einwirken können. Die Autorin diagnostiziert ein Spannungsverhältnis zwischen Handlungsmacht und sogenannter „Wirkungsmacht“, welches weitere Fragen aufwirft, beispielsweise ob tierliche Wirkungsmacht menschliches Handeln bedingt und daher nur als „indirekte Handlungsmacht“ definiert werden kann. Sehr anschaulich führt sie durch diverse Begriffsverwirrungen und semantische Probleme, welche die Diskussion erschweren, durch die aber deutlich wird, was für eine Definition tierlicher Agency von Bedeutung ist.

Im zweiten philosophisch ausgerichtet en Text geht es um den Begriff der Verwundbarkeit und dessen problematisches Verhältnis zu bisherigen Agency-Konzepten. Dominik Ohrem plädiert hier für eine Annäherung an den Agency-Begriff durch Verwundbarkeit und möchte somit nicht nur mit der weit verbreiteten dichotomen Vorstellung von „Handlungsmacht vs. Verwundbarkeit“ aufräumen, sondern auch tradierte Konzeptionen von Verwundbarkeit als reine Passivität und Negativität verwerfen. Er will zeigen, dass sie sich bedingen und dass Verwundbarkeit letztlich als Grundlage menschlichen und tierlichen Handelns zu verstehen ist.

Im dritten philosophischen Beitrag betont Leonie Bossert, dass man, wenn man sich mit tierlicher Agency auseinandersetzt, nicht daran vorbei komme, sich auch mit der Frage nach der Befähigung zu moralischem Handeln bei Tieren auseinanderzusetzen. In der westlichen, von Kant geprägten Tradition werde Moralbefähigung immer mit kognitiven Fähigkeiten verbunden und zwischen sogenannten „moral agents“ und „moral patients“ unterschieden; erstere haben kognitive Fähigkeiten, letztere eher nicht. Die Autorin legt dar, wie problematisch diese Differenzierung schon bei Menschen sei, und fordert auf, deutlicher zwischen Handlungsfähigkeit und moralischer Handlungsfähigkeit zu unterscheiden. Letztlich weist sie auf die Wichtigkeit von Empathie in der Debatte hin und fragt, warum eine rational motivierte Handlung besser sei als eine empathisch motivierte Handlung. Empathische Handlungen seien wertvolle Handlungen, zu denen Tiere durchaus fähig seien, unabhängig davon, ob man ihnen Moralbefähigung zuspreche oder nicht.

Aus sozialtheoretische Perspektive befasst sich Sven Wirth mit der Diskussion um Donna Haraways These, nach der einige Tiere, beispielsweise Laborratten, als sogenannte „workers in labs“, d.h. als handelnde und mit Freiheitsgraden ausgestattete Entitäten, zu verstehen seien. Haraways Ziel sei es, damit nicht nur an dem bestehenden Subjekt-Objekt-Dualismus zwischen Mensch und Tier zu rütteln, sondern auch gewisse Tierrechtspositionen zu kritisieren. So würden Tiere auch in der Tierrechtsbewegung oftmals bloß aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit Menschen inkludiert und somit letztlich auch auf diese zurechtgestutzt. Sehr erhellend setzt sich der Autor mit Haraways Kritikern auseinander und fragt, was sich aus diesem Streit lernen lasse und welchen Beitrag die HAS leisten können, um eine herrschaftssensible und den Subjekt-Objekt-Dualismus reflektierende Theorie tierlicher Agency zu entwickeln.

In dem ersten Beitrag des praktischen Teils befasst sich Katharina Dornenzweigsehr anschaulich mit Versuchen, Tieren menschliche Sprache beizubringen, und mit den dahinter liegenden Konzeptionen tierlicher Agency. Während man beim sogenannten „alten Anthropozentrismus“ von einer untrennbaren Kluft zwischen Mensch und Tier ausging, ein sprechendes Tier undenkbar war und es folglich nicht zu einer „Aufnahme des Gesprächs“ mit ihm kam, brachte eine Welle von Tiersprachexperimenten in den 70er-Jahren die Wende hin zu einem „neuen Anthropozentrismus“. Auch hier wurde die Welt noch immer vom Menschen aus gesehen, doch immerhin sah man nur noch graduelle Unterschiede zwischen Mensch und Tier. Nichtsdestotrotz wurden diese Unterschiede – insbesondere zwischen Menschen und Menschenaffen – normativ aufgeladen, was sich besonders bei Sprachexperimenten und der Diskussion um ihre Bedeutung zeigte. So wurden der Autorin zufolge viele Versuche für gescheitert erklärt, was aber letztlich bloß auf den falsch gewählten anthropozentristischen Maßstab zurückzuführen sei. Aktuell sei der Stand der, dass nicht-menschliche Tiere menschliche Sprache besser beherrschen als Menschen nicht-menschliche Sprachsysteme und dass Tiere in verschiedenen Versuchsreihen deutliche Formen des Widerstandes zeigten. So erweiterten sie ihren Handlungsspielraum, indem sie durch die erlernte Sprache den Versuchsaufbau torpedierten oder den experimentellen Raum nutzten, um sich auszudrücken und ihre Umgebung zu verändern. Deutlich werde jedenfalls, dass man diesen Tieren hier als agierenden Subjekten begegne und sie somit das Verhältnis zwischen menschlichen Experimentierenden und tierlichen Probanden veränderten. Jeder Versuch, sich einen Begriff der Agency nicht-menschlicher Tiere zu machen, könne zu schnell diffus erscheinen. Daher sei ein flexiblerer Begriff –
oder gar eine Vielzahl von Begriffen – nötig, um der Agency verschiedener Spezies gerecht werden zu können. Wie dieser aussehen könne, sei unklar; klar sei jedenfalls, dass über die Handlung von Tieren gesprochen werden müsse.

In den folgenden zwei Beiträgen widmen sich die Autoren im Speziellen Hunden. Martin Balluch beschäftigt sich mit der Frage nach Autonomie und der Bedeutung von Freiheit bei Hunden. Während beim Menschen allein durch das Festketten
Grundrechte verletzt würden, unabhängig davon, ob er sich bewegen wolle oder nicht, stelle sich beim Hund die Frage, ob er bereits am Angekettet-Sein leide, d.h. an seiner eingeschränkten Freiheit, oder nur dann, wenn er an ihr Ende gelange. Der Autor spricht sich für Grundrechte für Hunde aus, mit der Begründung, dass auch sie – ganz im Sinne Kants, aber entgegen dessen Grundannahme – zu vernünftigem Handeln fähig seien, sich selbst Zwecke setzen und ihre Affekte kontrollieren können. Denker wie Descartes und Kant irrten schlichtweg darin, dass es Rationalität, Bewusstsein und entsprechend Autonomie nur „ganz oder gar nicht“ gebe; weder bei Menschen noch bei Tieren treffe dies zu. Sehr anschaulich stellt Balluch dar, wie u.a. biologische Erkenntnisse, die Verhaltensforschung und die Neurobiologie diese These bestätigen und somit Kants Grundannahme verändern, nach der nur Menschen zu diesen Leistungen fähig seien. Die aus diesen Erkenntnissen resultierende Position verleihe Tieren Singularität und Einzigartigkeit, und habe die Konsequenz, dass man auch ihnen – ähnlich wie bei Will Kymlicka – Bürgerrechte und Autonomie, d.h. die Freiheit, seine Handlungsziele in einer Multi-Spezies-Gesellschaft frei auswählen zu dürfen, zuschreiben müsse. Während Agency hier also als Fähigkeit zu intentionalem, zielgerichtetem Handeln verstanden wird, kommt bei Natalie Geese neben der Fähigkeit, die Welt zu transformieren, noch ein Faktor hinzu: Agency könne nur in „interaktiver Kooperation“ verwirklicht werden, was sich besonders deutlich am Beispiel von blinden Menschen und ihren Führhunden zeige.


In dem abschließenden Beitrag „Jedes Tier ist eine Künstlerin“ geht Jessica Ullrich der Frage nach, ob und inwiefern man von tierlicher Autorschaft oder Co-Autorschaft in der Kunst sprechen könne, und will letztlich zeigen, dass auch Kunst nicht mehr als klares Distinktionsmerkmal zwischen Menschen und anderen Tieren gelten könne. „Agency“ werde hier verstanden als „unauflösbare Kombination aus Handlungs- und Wirkungsmacht“; Tiere drücken ihre Agency der Autorin zufolge nicht nur, wie in einigen der von ihr diskutierten Beispiele, durch das Hinterlassen von Körperspuren oder Destruktion aus, sondern auch durch aktives Gestalten ihrer Umwelt. Man betrachte beispielsweise die Erbauung kunstvoller Schlafnester gewisser Vogelarten oder die immer populärer gewordene Elefantenmalerei. Aufgrund der Tatsache, dass es schon immer veränderlich war, was als „Kunst“ oder „Kunstwerk“ und wer als „Künstler“ zu gelten habe, gibt es der Autorin zufolge keinen Grund, diese Deutungshoheit nicht zu nutzen und nicht auch von „Tierkunst“ zu sprechen. Dies werde zwar ein gewisses Umdenken über Kunst und Künstlertum erfordern, es sei aber auch als Chance zu verstehen. Denn von Tierkunst zu sprechen, bedeute, Tiere nicht mehr nur noch als „weltarme Wesen“, sondern als „kreative Individuen mit Gestaltungswillen“ aufzufassen. Dies wiederum biete die Chance, dass die Akzeptanz tierlicher Agency auch in anderen Bereichen erkannt und vorangetrieben werde. Insofern sei dies ein politisches Instrument, das eingesetzt werden könne, nicht nur um die Vorstellung eines „hierarchisch gedachten menschlichen Exzeptionalismus“ weiter zu unterminieren, sondern auch um diverse Handlungsformen und Mensch-Tier-Verhältnisse ethisch zu bewerten, was, wie zu Beginn dieses Bandes betont, ein wichtiger Bestandteil der HAS ist. Obwohl hier, wie angekündigt, keine einheitliche Antwort auf die Frage nach tierlicher Agency geliefert wird, stößt dieser Sammelband eine interessante Debatte an. Durch den gemeinsamen Fokus auf die Frage nach tierlicher Agency werden die verschiedenen Beiträge – trotz verschiedener Ansätze, Disziplinen, Stile und Blickwinkel – zusammengeführt. Insbesondere der letzte Beitrag , der durch seinen Titel zunächst künstlerisch-esoterisch anmutet, verdeutlicht die Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit tierlicher Agency, die letztlich als Instrument genutzt werden kann, um Tiere in vielen Bereichen ihrer Interaktion mit Menschen von ihrem bloßen Objektstatus zu befreien.

(Alina Omerbasic, Literaturbericht 2016/1, in: ALTEX TIERethik, Seite 137 ff.)
Key words: Mensch-Tier-Beziehung Agency Handlungsfähigkeit Moral Tierethik Sprachexperimente Kommunikation Autonomie Hunde Eigenwert Selbstzweck Ausbruch Ausbrecher Schlachthof Nutztiere Schlachttiere Human-Animal-Studies HAS Chimaira Sammelband
Language: Deutsch / German
Medium: Buch
Publisher: transcript Verlag
Status: Verfügbar